Schopenhauer. Kuno Fischer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Schopenhauer - Kuno Fischer страница 18
Als Arthur Schopenhauer, noch ein sechsjähriges Kind, einmal im Hause zurückgeblieben war, während die Eltern einen längeren Spaziergang machten, geriet er plötzlich außer sich vor Angst, dass sie nie wiederkehren würden und er für immer verlassen sei. Als er, ein siebzigjähriger Greis, jemand über die Schienen der Eisenbahn gehen sah, rief er ihm zu, dass er sich in Acht nehmen möge. »Wenn ich so ängstlich wäre wie Sie«, sagte jener, »so hätte mich längst der Teufel geholt.« »Und mich auch«, erwiderte Schopenhauer, »wenn ich es nicht wäre.« Er schlief eine zeitlang mit Waffen und pflegte seine Habseligkeiten in die verborgensten Winkel zu verstecken, weil er fortwährend Raub und Diebstahl vor Augen sah; aus Neapel vertrieb ihn die Furcht vor den Blattern, aus Verona die Furcht vor vergiftetem Schnupftabak, aus Berlin die Furcht vor der Cholera; er vertraute seinen Bart nie einem fremden Schermesser an und führte stets einen ledernen Becher mit sich, um nicht aus fremden Gläsern zu trinken.124
Unter den Heroen des Geistes hat wohl keiner in solchem Grad, wie Arthur Schopenhauer, jene Worte des Goethe’schen Faust erlebt und erlitten:
Du bebst vor allem, was nicht trifft,
Und was du nie verlierst, das musst du stets beweinen!
Seine Menschenscheu und sein darauf gegründetes Misstrauen mögen ihm bisweilen zu einer nützlichen Schutzwehr gedient haben, aber sie haben ihm auch schlimme Früchte getragen. Eine der schlimmsten lag darin, dass dieser geniale Denker, der dunkle und labyrinthische Gegenden der menschlichen Natur zu erleuchten gewusst hat, in konkreten und praktischen Fällen oft eine erstaunliche, seinen eigensten und teuersten Interessen verderbliche Menschenunkenntnis an den Tag gelegt hat, denn grundloses Misstrauen paart sich leicht mit grundlosem Vertrauen, und maßlose Affekte sind vor dem Richterstuhl der Vernunft grundlos. Der Ausspruch des Herzogs im Goethe’schen Tasso passte auf ihn wie bestellt:
Die Menschen fürchtet nur, wer sie nicht kennt,
Und wer sie meidet, wird sie bald verkennen.
Wenn er solche Worte, wie die angeführten, in seinem gefeierten Dichter las, so musste die innere Stimme ihm zurufen: »de te fabula narratur!«
Nehmen wir nun an, dass aus der ihm angeborenen Willensart eine Lebensanschauung und Weltansicht erwuchs, so konnte dieselbe nicht anders als schwermütig ausfallen, sich düster färben und pessimistisch gestalten. Freilich gehörte dazu das Bedürfnis nach einer Weltansicht, der mächtige Drang nach Vorstellungen und Ideen, der Vergrößerungsspiegel der Phantasie; sonst entstand nur ein elender, von den unseligsten Affekten gequälter, von seinen Wahnideen bis zur Verdunkelung beherrschter Mensch!
3. Das mütterliche Erbteil
Ein solcher Ideendurst, eine solche intellektuelle Triebkraft herrschte wirklich in dem jungen Arthur, und zwar von Anbeginn. Dieser zweite Grundzug seines Wesens war das Erbteil seiner Mutter. Johanna Schopenhauer, wie wir sie schon kennen gelernt haben, war eine lebensfrohe, heitere, der Sonnenwelt zugewendete Natur, die vor allem Pessimismus zurückwich, als ob sie ein Gifthauch anwehte. Es lagen dichterische und künstlerische Keime in ihr bereit, die nur auf günstige Bedingungen harrten, um sich schnell und leicht zu entfalten. Sie ist eine anmutige und vielgelesene Schriftstellerin geworden und hat ihre intellektuelle Begabung auf ihre beiden Kinder vererbt. Adele hat sich als Blumenmalerin ausgezeichnet, Märchen gedichtet und, was mehr als beides sagen will, sich in das Gebiet der literarischen und künstlerischen Interessen dergestalt eingelebt, dass sie Goethe bei seinen Arbeiten gute Dienste leisten konnte.
Und Arthur? Sein intellektuelles Naturell war mit dem ganzen Schwergewicht seines starken und heftigen Wollens angetan und ausgerüstet; er war berufen ein genialer Künstler zu werden, nicht ein solcher, der die Erscheinungen in Gestalten und Farben, sondern der das Wesen und die Beschaffenheit der Dinge in Begriffen darstellt und abbildet: ein Künstler, dessen Stoff in Erkenntnissen, Einsichten und Ideen besteht, die auf dem Weg der gelehrten, wissenschaftlichen, philosophischen Bildung und Arbeit erworben werden mussten. Vermöge seiner Geistesart gehörte er zu den Kindern des Lichts, zu jenen »Göttersöhnen«, die nach dem Wort des Herrn berufen sind, das Wesen der Welt, das Ewige im Vergänglichen zu erkennen und anzuschauen: »Und was in schwankender Erscheinung schwebt, befestiget mit dauernden Gedanken!« – Das Gefühl dieses Berufs war schon in ihm lebendig, als er sich verurteilt sah, im Comptoir zu Hamburg die kaufmännischen Geschäfte zu erlernen.
Zweites Kapitel
Der zweite Abschnitt der Jugendgeschichte. Die neue Laufbahn und die neuen Lehrjahre (1805 – 1814)
I. Johanna Schopenhauer in Weimar
1. Der gesellige Kreis. Goethe
Den 28. September 1806 war Frau Schopenhauer mit ihrer neunjährigen Tochter in Weimar angelangt, ahnungslos, welchen furchtbaren Ereignissen in nächster Zukunft sie entgegenging. Aber, wie seltsam es klingt, sie hätte zu ihrem geselligen Heil in keinem gelegeneren Zeitpunkte nach Weimar kommen können, als in den Tagen der Schlacht bei Jena. Solche ungeheure Begebenheiten rütteln die Menschenlose durcheinander und führen Personen, die sonst getrennt bleiben, schnell und traulich zusammen. In der gemeinsamen Ausübung weiblicher Tugenden, um Not und Elend zu lindern, fand sie sogleich alle Gelegenheit, sich tätig und hilfreich zu zeigen; sie war wohlhabend und freigebig; sie wusste auch im geistigen Wechselverkehr angenehm und anregend zu wirken durch die Art, wie sie sich mitteilte und wie sie empfing.
Gleich in den ersten Tagen hatte sie Goethe besucht, aber nicht angetroffen, alsbald überraschte er sie durch seinen schnellen und scheinlosen Gegenbesuch; sie war durch Fräulein von Göchhausen der Herzogin Amalie vorgestellt und mit Wieland bekannt gemacht worden. Es dauerte nicht lange, so war Johanna Schopenhauer der Mittelpunkt eines geselligen Kreises von unvergleichlicher Art. Nun interessieren uns vor allem die brieflichen Nachrichten, die sie dem Sohne gab.
Einige Tage nach der Schlacht hatte Goethe sich mit Christiane Vulpius, seiner bewährten tapferen Freundin, trauen lassen und die natürliche Ehe, die er schon achtzehn Jahre mit ihr geführt, in eine vollgültige verwandelt. Aber von der weimarschen Gesellschaft wurde ihm die gesetzliche Form seiner Ehe noch mehr verübelt als die ungesetzliche, da sie eine soziale Erhöhung und Anerkennung der Frau zur Folge hatte, die man derselben nicht gönnte. Ganz anders dachte Frau Schopenhauer; sie freute sich aufrichtig ihrer Bekanntschaft, als ihr Goethe seine Frau schon am nächsten Tage zuführte (20. Oktober 1806). Ein treffendes Wort darüber schrieb sie ihrem Sohn: »Wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, so können wir ihr wohl eine Tasse Tee geben«.
Goethe hat diese Aufnahme dankbar empfunden und ihr vergolten. Bald fühlte er sich wohl und heimisch in ihrem Hause und nahm an den Gesellschaftsabenden, die sie zweimal wöchentlich hielt, den regsten Anteil; jedes Mal stand für ihn ein kleiner Tisch mit Material zum Zeichnen in Bereitschaft. Unter den Genrebildern, die uns Goethe im geselligen Verkehr zeigen, würde eines der anmutigsten und eigenartigsten fehlen, wenn Johanna Schopenhauer ihre weimarschen Gesellschaftsabende dem Sohne nicht so anschaulich beschrieben hätte.
Hier las Goethe eines Abends mit verteilten Rollen seine »Mitschuldigen«, ein anderes Mal las er schottische Balladen, dann Calderons »standhaften Prinzen«, der mehrere Abende in Anspruch nahm. Da diese Tragödie, als er sie aufführen sah, einen so außerordentlich tiefen Eindruck auf Arthur Schopenhauer gemacht und in seinen Schriften ihm wiederholt zur Erleuchtung seiner Heilslehre gedient hat, so ist uns der Brief seiner Mutter, worin sie ihm die eben erwähnte Vorlesung schildert, in mehr als einer Hinsicht merkwürdig. »Goethe verlässt mich nicht«, schrieb sie den 23. März 1807, »er hat jeden