Schopenhauer. Kuno Fischer
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In denselben Ferien hatte er einen Göttinger Freund als seinen Gast mit nach Hause gebracht: Karl Josias Bunsen, der nachmals als »Ritter Bunsen« und preußischer Gesandter in England ein berühmter Mann wurde. Sechsundvierzig Jahre später haben sich beide Jugendfreunde als Greise am Ende ihrer Laufbahn und ihres Lebens noch einmal in Frankfurt wiedergesehen. Bunsens Name leuchtete längst im Glanze hoher Ehren; Schopenhauer, der damals berühmt zu werden begann, hielt das Ende seiner irdischen Laufbahn für den Anfang seines unvergänglichen Ruhmes und sagte zu Bunsen (wie dieser mir unmittelbar nachher erzählt hat): »Sie haben Ihren Lohn dahin!« Das Wiedersehen war nicht erquicklich gewesen.
Zum Abschiedsgruß von Göttingen schrieb Schopenhauer in das Fremdenbuch der Ruine Hanstein, wo er gern verweilt hatte und sich an das Goethe’sche »Bergschloss« erinnert fühlte, die drei ersten Strophen dieses Gedichts, das im Herbst 1801 auf der Lobedaburg bei Jena entstanden war: »Da droben auf jenem Berge, da steht ein altes Schloss« u. s. f. Unter das Gedicht schrieb er »Worte Goethes des Göttlichen«. Diese seine Zeilen sind vom 5. September 1811.131
Die drei letzten Semester (vom Herbst 1811 bis in das Frühjahr 1813) wurden in Berlin studiert. Die Beschäftigung mit Plato hatte ihn zu den Altertumsstudien zurückgeführt: er hörte bei Böckh eine Vorlesung über Plato und bei dem berühmten Fr. Aug. Wolf, an den er durch Goethe empfohlen war, Vorlesungen über die Wolken des Aristophanes und die Satiren des Horaz, über griechische Literaturgeschichte und griechische Altertümer. Die naturwissenschaftlichen Studien wurden eifrig wiederholt und fortgesetzt: er hörte Vorlesungen über Astronomie und Physik, über Magnetismus und Elektrizität, über Experimentalchemie und Physiologie, über die Anatomie des menschlichen Gehirns und die Gebiete der Zoologie.
Am wenigsten gefördert und befriedigt fühlte er sich durch die philosophischen Vorlesungen bei Fichte und Schleiermacher: er hörte jenen über »die Tatsachen des Bewusstseins« und hat auch einmal in seinem Kolloquium hartnäckig mit ihm disputiert, diesen über die Geschichte der mittelalterlichen Philosophie, wobei er am Rand seines Heftes gelegentlich wider die Einheit und Zusammengehörigkeit von Philosophie und Religion protestiert hat. Von den Schriften Fichtes hat er mit innerer Zustimmung nur eine gelesen, die in Ansehung der Gegenwart pessimistisch gestimmt war: »Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters«. Er war selbst schon mit dem Ausbau der eigenen Ideen beschäftigt.
4. Die Promotion in Jena
Die akademischen Lehrjahre waren zu Ende. Am liebsten würde er jetzt in Berlin promoviert haben, wenn nicht der Ausbruch der deutschen Freiheitskriege im Frühjahr 1813 ihn von dort vertrieben hätte. Auch in Dresden, wo er gern in Ruhe seine Dissertation geschrieben hätte, war nicht seines Bleibens, denn schon sammelten sich die Kriegswolken, die sich hier in nächster Zukunft entladen sollten. Und da er zu Weimar im Hause der Mutter Verhältnisse vorfand, die ihn abstießen, so ging er in das vom Kriegslärm verschonte Rudolstadt, wo er bis in den Herbst blieb und im Gasthof zum Ritter seine Abhandlung »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« verfasste. Damit erwarb er sich von der philosophischen Fakultät zu Jena den Doktorgrad (2. Oktober 1813). Die Schrift enthält bereits den Unterbau seines Systems.132
Nach seiner eigenen Angabe hatte er zum Zweck der Abhandlung eine Reihe kritischer Schriften über die kantische Kritik gelesen, wie Herders Metakritik, Maimons Transzendentalphilosophie, Schulzes Änesidemus, Becks Standpunktslehre, Fries´ neue Kritik der Vernunft. Von Reinhold, Fichte, Schelling, Hegel und Herbart war nicht die Rede. Herders Metakritik wird auf das schärfste getadelt: sie wimmle von zahllosen Fehlern und liefere den Beweis, dass ihr Verfasser den großen Philosophen nicht verstanden habe.133 Noch den 4. November 1813 hatte er dem Buchhändler Frommann in Jena Hegels Logik mit der Bemerkung zurückgeschickt, dass er dieses Buch so wenig lese wie der Absender.134
Während die deutsche Jugend für ihr Vaterland kämpfte, hatte sich Arthur Schopenhauer, als ob er gar nicht dazu gehörte, in ein philosophisches Stillleben nach Rudolstadt zurückgezogen und die Schrift über den Satz vom zureichenden Grunde geschrieben; er hatte der Fakultät in seinem »Curriculum vitae« erklärt, dass er, dank seinem Vater, kosmopolitisch erzogen sei, dass sein Vaterland größer als Deutschland und er berufen wäre, der Menschheit nicht mit der Faust, sondern mit dem Kopfe zu dienen. Dies waren nun freilich keine Gründe »zureichender« Art. In eine Fensterscheibe des von ihm bewohnten Zimmers hatte er eingekritzelt: »Arth. Schopenhauer majorem anni 1813 partem in hoc conclave degit«. Dazu die idyllischen Worte des Horaz »laudaturque domus, longos quae prospicit agros«.
5. Goethes Einfluss
Im Laufe des November kehrte er nach Weimar zurück und lebte unter sehr unerquicklichen Verhältnissen in Pension bei der Mutter. Bisher hatte Goethe ihn unbeachtet gelassen und jenen Empfehlungsbrief an Fr. A. Wolf mehr um der Mutter willen als aus Interesse für den Sohn geschrieben. Nun hatte in der Promotionsschrift des jungen Mannes ein Abschnitt, der vom Grunde des Seins handelte und die durchgängige Anschaulichkeit der geometrischen Beweise verlangte, seine Aufmerksamkeit erregt und seinen Beifall gefunden. Die gleiche Forderung wollte er in den optischen Beweisen seiner Farbenlehre erfüllt haben und hielt den jungen Schopenhauer für fähig und würdig, in dieselbe eingeführt zu werden. In einer Abendgesellschaft der Mutter unterhielt er sich mit ihm und lud ihn für den folgenden Abend zu sich ein. Es war am 6. November, dass Goethe, wie Schopenhauer zu sagen pflegte, ihm zuerst seine Gnade zugewendet hat. Nach den Aufzeichnungen in seinem Tagebuch hatte Goethe schon am 4. November sich mit Schopenhauers Schrift beschäftigt und ihn selbst am 7., 10. und 14. dieses Monats bei sich gesehen. Er schreibt den 24. November an Knebel: »Der junge Schopenhauer hat sich mir als ein merkwürdiger und interessanter Mann dargestellt, Du wirst weniger Berührungspunkte mit ihm finden, musst ihn aber noch kennen lernen. Er ist mit einem gewissen scharfsinnigen Eigensinn beschäftigt, ein Paroli und Sixleva in das Kartenspiel unserer neueren Philosophie zu bringen. Man muss abwarten, ob ihn die Herren vom Metier in ihrer Gilde passieren lassen; ich finde ihn geistreich und das übrige lasse ich dahingestellt.« An demselben Tag schreibt Schopenhauer an F. A. Wolf: »Ihr Freund, unser großer Goethe, befindet sich wohl, ist heiter, gesellig, günstig, freundlich: gepriesen sei sein Name in alle Ewigkeit«.
Die eigentlichen Annäherungen und das Studium der Farbenlehre, worin er Goethes Schüler und Anhänger wird, fallen in die ersten Monate des Jahres 1814, nachdem ihn Goethe am 8. Januar früh in einem Handbillett zu einer Sitzung »um elf Uhr, lieber jedoch um halb elf Uhr« zu sich eingeladen hatte. Er ist in dieser Zeit dem großen Mann so nahe gekommen, dass er sich über seine idealistische und pessimistische Grundansicht offen gegen ihn aussprach. Als er ihm einst erklärte, dass die Sinnenwelt unsere Vorstellung sei, und die Sonne nicht wäre, wenn wir sie nicht sähen, blickte ihn Goethe groß an und sagte: »Vielmehr wären Sie nicht, wenn die Sonne Sie nicht sähe!«
Auch mit seiner pessimistischen Lebensanschauung muss er nicht zurückgehalten haben, wie aus dem Sinnspruch erhellt, den ihm auf seine Bitte, als er Abschied nahm, Goethe ins Stammbuch geschrieben hat:
»Willst du dich deines Wertes freuen,
So musst der Welt du Wert verleihen.
Im Gefolg und zum Andenken mancher vertraulichen Gespräche. Weimar, den 8. Mai 1814.« Es war gerade vier Monate, seitdem ihn Goethe zu Versuchen über die Farbenlehre eingeladen hatte.
Das Stammbuch Schopenhauers bestand aus diesem einzigen Blatt. Kürzer und treffender, als in diesen Goethe’schen Worten geschehen ist, lässt sich der Widerspruch nicht charakterisieren, an welchem der persönliche Pessimismus Schopenhauers zeitlebens gelitten hat: die Menschheit verachten und den