Schopenhauer. Kuno Fischer
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Der ausführlichste und geistreichste der Briefe Schopenhauers ist vom 11. November 1815; er verdient auch deshalb unser Interesse, weil aus seinen Ideen bis in die Bilder und die Ausdrucksweise hinein die gleichzeitige Entstehung des Hauptwerks unverkennbar hervorleuchtet. Goethe hat in dem vorangegangenen Brief (23. Oktober) gesagt: »Ich versetze mich in Ihren Standpunkt, und da muss ich denn loben und bewundern, wie ein selbstdenkendes Individuum sich so treu und redlich mit jenen Fragen befasst und das, was gegenständlich daran ist, rein im Auge behält, indem es sie aus seinem Innern, ja aus dem Innern der Menschheit zu beantworten sucht.« Diese treffende und wohltuende Anerkennung beantwortet Schopenhauer mit einer Schilderung seiner intellektuellen Persönlichkeit: »Alles, was von Ihnen kommt, ist mir ein Heiligtum. Überdies enthält Ihr Brief das Lob meiner Arbeit, und Ihr Beifall überwiegt in meiner Schätzung jeden anderen. Besonders erfreulich aber ist es mir, dass Sie in diesem Lobe selbst mit der Ihnen eigenen Divination gerade wieder den rechten Punkt getroffen haben, indem Sie nämlich die Treue und Redlichkeit rühmen, mit der ich gearbeitet habe. Nicht nur was ich in diesem beschränkten Felde getan habe, sondern alles, was ich in Zukunft zu leisten zuversichtlich hoffe, wird einzig und allein dieser Treue und Redlichkeit zu danken sein. Denn diese Eigenschaften, die ursprünglich nur das Praktische betreffen, sind bei mir in das Theoretische und Intellektuale übergegangen; ich kann nicht rasten, kann mich nicht zufrieden geben, solange irgendein Teil eines von mir betrachteten Gegenstandes nicht reine, deutliche Kontur zeigt. Jedes Werk hat seinen Ursprung in einem einzigen glücklichen Einfall, und dieser gibt die Wollust der Konzeption: die Geburt aber, die Ausführung ist wenigstens bei mir nicht ohne Pein, denn alsdann stehe ich vor meinem eigenen Geist, wie ein unerbittlicher Richter vor einem Gefangenen, der auf der Folter liegt, und lasse ihn antworten, bis nichts mehr zu fragen übrig ist.« »Der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, ist es, der den Philosophen macht. Dieser muss dem Ödipus des Sophokles gleichen, der Aufklärung über sein eignes schreckliches Schicksal suchend, rastlos weiter forscht, selbst wenn er schon ahnt, dass sich aus den Antworten das Entsetzlichste für ihn ergeben wird. Aber da tragen die meisten die Jokaste in sich, welche den Ödipus um aller Götter willen bittet, nicht weiter zu forschen: und sie gaben ihr nach, und darum steht es auch mit der Philosophie noch immer, wie es steht.«145
Nachdem er auf Goethes Zustimmung oder wenigstens gutachtliche Meinung sieben Monate hindurch vergeblich gehofft hatte, endete die Sache für Schopenhauer mit einer sehr bitteren Enttäuschung, die er Goethe gegenüber zwar nicht verhehlt, aber bemeistert hat. Vielleicht ist der Dank und die Ehrfurcht, die Goethe gebühren, nie schöner und stolzer ausgesprochen worden als in den folgenden Worten: »Ew. Excellenz haben es in Ihrer Biographie gesagt«, schrieb er den 7. Febr. 1816: »’so ist doch immer das Finale, dass der Mensch auf sich zurückgewiesen wird’«. »Auch ich muss jetzt schmerzlich aufseufzen: ›ich trete die Kelter allein‹.« »Nach so langer Zeit, so vielem Schreiben auch nicht einmal Ihre Meinung, Ihr Urteil zu erfahren, nichts, gar nichts als ein zögerndes Lob und ein leises Versagen des Beifalls ohne Angabe von Gegengründen: das war mehr als ich fürchten, weniger als ich je hoffen konnte. Indessen bleibe es ferne von mir, gegen Sie mir auch nur in Gedanken einen Vorwurf zu erlauben. Denn Sie haben der gesamten Menschheit, der lebenden und kommenden, so Vieles und Großes geleistet, dass alle und jeder, an dieser allgemeinen Schuld der Menschheit an Sie, mit als Schuldner begriffen sind, daher kein Einzelner in irgendeiner Art je einen Anspruch an Sie zu machen hat. Aber wahrlich, um mich bei solcher Gelegenheit in solcher Gesinnung zu finden, musste man Goethe oder Kant sein: kein anderer von denen, die mit mir zugleich die Sonne sahen.«
In Goethes »Tag- und Jahresheften« lesen wir unter dem Jahre 1816: »Dr. Schopenhauer trat als wohlwollender Freund an meine Seite. Wir verhandelten manches übereinstimmend miteinander, doch ließ sich zuletzt eine gewisse Scheidung nicht vermeiden, wie wenn zwei Freunde, die bisher miteinander gegangen, sich die Hand geben, der eine jedoch nach Norden, der andere nach Süden will, da sie denn sehr schnell einander aus dem Gesichte kommen.« Unmittelbar vorher hatte Goethe der Schrift eines Gegners gedacht mit der sehr beherzigenswerten Bemerkung: »Professor Pfaff sandte mir sein Werk gegen die Farbenlehre nach einer den Deutschen angeborenen Zudringlichkeit.«
Als er Schopenhauer drei Jahre später (den 19. und 20. August 1819) zum letzten Mal sah, bemerkte Goethe in den Annalen: »Ein Besuch Dr. Schopenhauers, eines meist verkannten, aber auch schwer zu kennenden verdienstvollen jungen Mannes, regte mich auf und gedieh zur wechselseitigen Belehrung«.
3. Die Entstehung des Hauptwerks
Schopenhauer pflegte sein System gern mit einem Kristall zu vergleichen, der strahlenförmig zusammenschießt, sogar mit der hunderttorigen Thebe, deren Eingänge sämtlich auf einen und denselben Mittelpunkt hinweisen. Gewisse Anschauungen, die sonst weit voneinander abstehen, hatten sich in ihm zu Grundüberzeugungen befestigt und allmählich ohne Künstelei dergestalt in seinem Kopfe vereinigt, dass sie zu seiner eigenen Überraschung aus einem einzigen Grundgedanken hervorgingen. So entwickelte sich eine Gedankenkette, »die nie zuvor in eines Menschen Kopf gekommen war«. Schon im Jahre 1813 hatte er das Gefühl, dass er den Embryo eines völlig originellen Systems in sich trage.
1. Zwei Grundüberzeugungen hatte er den Göttinger Anregungen gemäß aus seinen akademischen Studien gewonnen: die erste stammte aus Kant, die andere aus Plato. Er hatte die kantischen Hauptschriften gründlich gelesen und sich angeeignet, insbesondere die Vernunftkritik, die er aber noch nicht in ihrer ursprünglichen Form, sondern nur in der zweiten Auflage kannte, worin sich der Text fünfzig Jahre hindurch (1787 – 1838) fortgepflanzt hat. Nachdem er dieses Buch durchdrungen, war ihm zumute wie dem Blinden nach einer gelungenen Staroperation. Seitdem stand ihm unwiderruflich fest, dass unsere Sinnenwelt durchaus nichts anderes als Erscheinung oder Vorstellung, dass sie durchaus phänomenal oder ideal sei. Diese Überzeugung nannte er seine kantische oder »idealistische Grundansicht«. Das Thema derselben ist »die Welt als Vorstellung«.
Unsere Sinnenwelt ist ein Produkt aus zwei Faktoren: ihr Stoff besteht in unseren Sinneseindrücken oder Empfindungen und ist daher »sensual«, ihre Ordnung in Zeit, Raum und Kausalität, welche die Formen unseres Intellekts sind, dieser aber ist die Funktion des Gehirns, also »zerebral«. Diese beiden Bestandteile der Sinnenwelt erkannt und geschieden, Stoff und Form derselben (Empfindung und Anschauung) zum ersten Mal richtig gesondert zu haben, ist eines der unsterblichen Verdienste Kants, denn vor ihm hat es keiner vermocht.
2. Da nun die abstrakten oder allgemeinen Vorstellungen (Begriffe) aus den sinnlichen, diese aber aus den Funktionen der Sinnesorgane und des Zentralorgans hervorgehen, so folgt, dass unsere gesamte Erkenntnis ein Produkt unserer leiblichen Organisation, der Intellekt also abgeleiteter und sekundärer Art ist und keineswegs ein ursprüngliches Wesen. Es ist daher verkehrt und grundfalsch, wenn die Funktion hypostasiert und unter dem Namen »Seele« eine einfache denkende, mit Vorstellungskräften begabte Substanz fingiert wird, welche die Vorstellungen und Begriffe aus sich, unabhängig vom Leib, hervorbringen soll. Die Lehre von der Seelensubstanz, d. h. die rationale Psychologie für immer widerlegt zu haben, gehört ebenfalls zu den unvergänglichen Taten der kantischen Kritik.
Dass der Intellekt sekundär und die Seele eine Fiktion ist, war eine der Grundüberzeugungen, welche in Schopenhauer feststanden, bevor er sein Hauptwerk ausführte. Zu der Befestigung dieser Grundansicht hat das Studium der französischen Sensualisten, insbesondere das des französischen Arztes P. J. G. Cabanis in seinem Werke »Rapports du physique et du moral de l’homme« (1802)146 das meiste beigetragen; dazu kamen das von Schopenhauer oft und hochgepriesene Werk »De l’esprit« von Helvetius (1754), die Schriften Voltaires und die jüngsten Untersuchungen des französischen Physiologen Flourens über das Verhältnis des Intellekts