Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel

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Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel

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Leinen schon im Vorgarten um irgendwelche Ecken liefen, zum Beispiel, weil einer der beiden nach Passieren irgendeines Busches plötzlich einen Haken geschlagen hatte. Ludwig verstand es aber, noch bevor es zu gefährlichen Verwicklungen kam, durch geschicktes Hochschleudern und seitliches Schwingen der Leinen diese schnellstens wieder freizubekommen, um, wenn Not am Mann war, sofort wieder einen mäßigenden Zug auf den einen oder den anderen, meistens auf beide zugleich, ausüben zu können.

      Bei einem solchen Aufbruch war Ludwig dann eines Tages eine der Leinen beim Hochschwingen über die Motorhaube des Wagens von Dr. Strauss geraten, der vor dem Gartentor auf der Straße stand. Ludwig war klug genug, nicht einfach an der Leine zu ziehen, sonst wäre womöglich das Kühlwasserthermometer beschädigt oder gar abgerissen worden, das vorne auf dem Schraubverschluss für das Kühlwasser saß. Sondern er hob die Leine mit der Hand hoch und entdeckte dabei im Wegnehmen, dass das runde Schauglas, das das eigentliche Thermometer abdeckte, gesprungen war. Ludwig fuhr vorsichtig mit dem Finger darüber, um zu sehen, ob das Glas in seiner Fassung noch hielte, dann machte er sich mit den Hunden auf den Weg in den Park.

      Sein Vater als Chauffeur und Fachmann hatte von Dr. Straussens Auto noch nie viel gehalten, das hatte Ludwig aus den Gesprächen der Erwachsenen herausgehört, und Ludwig teilte diese Auffassung, nicht nur wegen des komplizierten französischen Namens dieses Wagens, sondern überhaupt. Zum Beispiel gerade vorhin dieses Kühlwasserthermometer, das ist doch primitiv! Bei unseren Autos sind das richtige Uhren mit Zeigern und einem vernickelten Ring im Armaturenbrett, und nicht einfach Schaugläser draußen auf dem Kühler – wobei ihm einfiel, dass ihm sein Vater verboten hatte, von ‚unseren‘ Autos zu sprechen, das seien die Wagen des Herrn Konsul. Bei einem so kleinen Auto wie dem von Dr. Strauss musste man natürlich das Kühlwasser genau im Auge behalten, das sah er schon ein, vor allem bei längeren Bergaufstrecken konnte das Wasser leicht ins Kochen geraten, und es war gut, wenn man schon vorher zum Abkühlen anhielt.

      Ludwig war mit den Hunden noch unterwegs, als Dr. Strauss aus dem Haus trat und mit seinem Wagen wegfahren wollte.

      „Was ist denn das für ein Schmutz auf der Motorhaube?“, rief er dem Gärtner zu, „Sie haben den Wagen doch gerade gewaschen?“

      „Dem kleinen Herkommer ist vorhin seine lange Hundeleine über das Auto geraten, es ist nichts weiter passiert. Ich mache es gleich weg.“

      „Sagen Sie dem Ludwig, er soll mit den Hunden besser achtgeben und vor allem den Lack meines Wagens verschont lassen!“

      Strauss liebte dieses Auto über alles, das er, im Gegensatz zum Konsul mit seinen drei großen Automobilen, nur für private Spazierfahrten verwendete, und er ließ ihm stets die beste Pflege angedeihen.

      Als Ludwig zurückkam, wurde er, noch ziemlich außer Atem, vom Gärtner ins Gebet genommen und vor allem wegen des Autos ermahnt.

      „Ist sonst noch etwas passiert?“

      „Nein, nein“, beteuerte Ludwig guten Gewissens und machte sich auf den Weg nach Hause.

      Bald danach kam auch Dr. Strauss mit dem Auto zurück und zeigte dem Gärtner einigermaßen aufgebracht das zersprungene Glas des Kühlwasserthermometers, was er während der Fahrt erst entdeckt hatte.

      „Ich habe mir gerade vorhin den Ludwig noch einmal vorgeknöpft, er sagte, dass mit der Leine überhaupt nichts weiter passiert sei.“

      „Überzeugend? Glaubwürdig?“

      „Doch, schon.“

      „Der Bursche muss heute Abend noch einmal vorgeladen werden!“

      Am Abend in der Halle ließ sich dann Dr. Strauss von Ludwig den Hergang noch einmal in Ruhe schildern, was diesem keine Mühe machte, und auf die Frage nach dem beschädigten Kühlwasserthermometer antwortete Ludwig eher beiläufig: „Der Sprung war schon –“

      Doch da platzte die Köchin hinter der Garderobe, von wo sie zugehört hatte, hervor und rief schrill dazwischen:

      „Ich habe doch gesehen, wie die lange Hundeleine über den Kühler geflogen ist und er dann ganz erschrocken an dem Glas herumgefingert hat, Herr Doktor!“

      „Nein, das war doch schon!“, begehrte Ludwig laut auf.

      Dr. Strauss sah ihn nur traurig an. Hätte er ihn vorwurfsvoll angeblickt oder gar zornig, es wäre nicht so schlimm gewesen. Ein vorwurfsvoller oder ein zorniger Blick, das hätte sich bloß auf das lädierte Kühlwasserthermometer bezogen, aber dieser traurige Blick aus diesen Augen, das war endgültig. Ludwig begriff sofort, dass alles verloren war und er keine Aussicht hatte, das jemals richtigzustellen; mit Tränen in den Augen schlich er sich davon.

      „Ich möchte diesen kleinen Lügner hier nicht mehr sehen“, hörte er Dr. Strauss noch sagen. Die Ungerechtigkeit war noch zu ertragen, die Demütigung war schlimmer.

      Das war das Ende von Ludwigs erster Hundeführerkarriere. Ludwig trauerte den beiden Alsatians nach und diese vielleicht auch ihm. –

      7_Das Unglücksbrett im Rhein

      Im Kino hatte Viktor in ‚Fox Tönende Wochenschau‘ ein Motorboot auf dem Wannsee gesehen, das an einer langen Leine ein Brett hinter sich herzog, auf dem ein junger Mann in Badehose stand. Das Brett mag so groß gewesen sein wie ein Bügelbrett, vielleicht ein bisschen kürzer und ein bisschen breiter. Es war gegen die Strömung angestellt, denn der Mann stand ziemlich weit hinten auf dem Brett und hielt sich mit deutlicher Rücklage an einem Zügel, der vorne am Brett befestigt war. Wenn er sein Gewicht nach rechts oder links verlagerte, konnte er mit erstaunlicher Geschwindigkeit und einer eindrucksvollen Gischtfontäne zur Seite ausschwingen, man hatte den Eindruck fast bis auf die Höhe des Motorboots.

      Viktor erlebte zum ersten Mal in seinem Leben, was Faszination ist. Er vibrierte, er fühlte eine seltsame Ungeduld und Unruhe, die ihn auch nach dem Kino nicht mehr loslassen wollte, und was immer er in diesen Tagen tat, stets landete er mit seinen Gedanken wieder bei diesem geheimnisvollen Brett. Er spürte, wie da eine Aufgabe auf ihn zukam, genau auf ihn und nicht auf irgendeinen anderen, eine Aufgabe, die niemand gestellt hatte und der er dennoch nicht ausweichen konnte und der er auch gar nicht ausweichen wollte, so wenig nützlich ihre Bewältigung wohl auch sein würde. Dabei kam ihm der Zeichenlehrer in den Sinn, ein Schwarmgeist und Feuerkopf, der mit ihnen im Schullandheim war und dort, anders als in der Schule mit ihren festen Lehrplänen, ganz aus sich herausgegangen war: ‚Das Nutzlose mit Besessenheit tun, das erst macht den freien Menschen aus‘, so hieß sein Leitsatz, alles andere sei kleinsinnige Fronarbeit, wenngleich freilich sie auch getan werden müsse.

      Viktor ahnte damals noch nicht, wie unfrei ein Mensch werden konnte, wenn er der Faszination unterlag, und wie frei zugleich, wenn er dabei nicht mehr den Gesetzen der Nützlichkeit und des Nutzens unterworfen war.

      Bevor die Wochenschau wechselte, sollte er unbedingt noch einmal ins Kino gehen, möglichst mit Ludwig, nicht nur, um sich dieses Brett auf dem Wannsee nochmals anzusehen, sondern weil er genauer wissen wollte, was da geschah. Wie groß war das Brett? Und vor allem, wie schnell fuhr das Motorboot? Das sollte er wissen. Dann müsste er nur noch an der Badeanstalt die Strömungsgeschwindigkeit des Rheins herausfinden.

      „Ich glaube, ich glaube“, sagte er bedeutungsvoll zu Ludwig, „das könnte hinhauen. Wenn die nämlich einigermaßen an die Geschwindigkeit des Motorboots herankommt – der Rest lässt sich vielleicht durch ein etwas größeres Brett ausgleichen –, dann können wir hier mit so einem Brett wellenreiten! Wir könnten über dem Wasser schweben, stell dir das vor!“

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