Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel
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Читать онлайн книгу Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel страница 13
In der Kutsche war es dunkel und es tropfte herein. Draußen stimmte Onkel Xaver ein Kutscherlied an. Bienchen merkte, wie sehr er sich bemühte, Frohsinn zu verbreiten, und sie spürte auch, als er allmählich leiser wurde und schließlich ganz verstummte, wie verzweifelt er war.
Keiner sprach mehr. Der Regen prasselte auf das Verdeck. Im Dunkel der Kutsche, die sanft dahinschaukelte, ließ sich gut träumen. Bienchen schien zu schlafen. Dann fiel Viktor plötzlich die Geschichte mit dem Marmeladebrot neulich ein – auch wieder so etwas mit Tante Georgette, was er gänzlich vergessen hatte! Jetzt wusste er auf einmal wieder, warum er vorhin Ludwigs Winken so übertrieben fand. Jeden Morgen nämlich hatte es zum Frühstück Marmeladebrot gegeben, wie Bienchen und er das nannten, während Tante Georgette von Musbrot sprach und Ludwig Musebrot dazu sagte; so hatte er es auch zu Hause drunten bei Herkommers gehört. Damit ist jedes Mal das Gleiche gemeint, aber bei Herkommers hatte er damals noch geglaubt, Musebrot bezöge sich irgendwie auf den Teig des Brotes, denn der enthielt, wie er später herausfand, Kümmel, und deshalb schmeckte das Brot bei Herkommers ganz anders als das Brot bei ihnen. Das war seine erste Erfahrung mit andrer Leuts Küche gewesen. Mit dem Brot hatte es angefangen, aber bei Herkommers schmeckte alles anders, roch anders, fühlte sich anders an. Und nun war auf dem Bauernhof noch einmal etwas Neues dazugekommen: In Tante Georgettes Brot war Anis, was er nur von Bonbons kannte. Da war wieder eine ganz andere Küchenwelt entstanden, und obwohl ihnen das Brot schmeckte, so hatten sie sich alle drei doch erst daran gewöhnen müssen, und freilich nicht nur an das Brot.
Ob Kümmel oder Anis, jedenfalls hatten sie beim Frühstücken wie immer ihre Brotscheiben Tante Georgette entgegengestreckt, denn um ein allzu großes Geklecker und Geschmiere zu vermeiden, wurden stets alle Brote von Tante Georgette mit Marmelade bestrichen. Neulich aber – und das war es! – hatte der schlaue Ludwig, der als Erster an die Reihe gekommen war, sein Brot anschließend umgedreht und dann als Letzter noch einmal die Unterseite zum Bestreichen hingehalten. Schorschett hatte das erst bemerkt, als sie zum besseren Verstreichen die Brotscheibe mit der freien Hand von unten etwas abstützen wollte. Ganz gegen ihre stille Art war sie sehr zornig geworden, fast wütend, und hat fürchterlich auf Ludwig eingeschimpft. Und als sie sich nach ein paar Sätzen genügend in Rage geredet und die Marmelade von den Fingern abgewischt hatte, haute sie ihm sogar noch ein paar Mal kräftig hinter die Löffel. Noch lauter als Schorschett hatte Ludwig geschrien, wahrscheinlich deshalb so laut, weil er sich doch arg ungerecht behandelt fühlte, denn das war ja nicht aus einer Art betrügerischer Verfressenheit heraus geschehen, zu der er allerdings manchmal neigte, sondern er hatte eigentlich nur eines seiner übermütigen Späßchen machen wollen.
Ob Ludwig vorhin vielleicht gerade deshalb so heftig zurückgewinkt hat, weil er von Schorschett so derb verhauen worden war? Oder ob das mit den Katzen zu tun hat? – Mit den Katzen? Mit welchen Katzen, um Himmels willen? – Er konnte sich nicht mehr erinnern, aber er fühlte, dass da noch etwas ganz Wichtiges gewesen war. Dann schlief er ein. Er träumte, es stecke ihm etwas im Hals, etwas viel zu Großes, das er weder hinauswürgen noch herunterschlucken konnte. –
Nachdem sie, zu Hause angekommen, ihr Gepäck unter dem Beistand von Onkel Xaver vom hohen Wagen abgeladen hatten, war Ludwig augenblicklich und ohne sich von Onkel Xaver recht zu verabschieden im Souterrain hinten verschwunden, wo Herkommers wohnten. Viktor läutete oben am Besuchereingang, aber da eine ganze Weile nichts geschah, setzte sich Bienchen mit einem leisen Seufzer auf ihren Koffer, und während sie noch immer warteten, dass sie jemand hineinlasse und in Empfang nähme, genau in diesem Augenblick, da die Ferien auf dem Lande endgültig vorüber waren, aber das städtische Leben zu Hause noch nicht wieder begonnen hatte, sagte Bienchen: „Weißt du, Viktor, was so schön war? Es war alles so beisammen. Alles wie unter einem großen Dach! Spielen und arbeiten – und wir haben immer fleißig mitgeholfen! Kaputtmachen und reparieren – weißt du noch, wie dem Ludwig die Gabel von Bodos Fahrrad abgebrochen ist und Onkel Xaver alles wieder selbst zusammengeschweißt hat – wie neu? Alles selber machen und dann selber aufbrauchen. Man musste gar nicht erst den weiten Weg zum Dorf zu machen, um irgendwas zu beschaffen, und man wollte es auch gar nicht. Es gab ja alles, was man brauchte, und wenn doch einmal etwas fehlte, konnte man es sich selber machen.“
Und nach einem tiefen Atemzug fügte sie hinzu: „Damit ist es jetzt wieder vorbei, Viktor, schade. Hier zu Hause ist dagegen alles so – wie soll ich sagen – so unübersichtlich.“ –
5_Viktors Katharsis
Die Luft war lind, es gab ein einfaches Abendbrot auf der Terrasse unter dem Kastanienbaum. Der Konsul kam etwas später, aber er ließ es sich nicht nehmen, Viktor mit erhobenem Glas ein zweites Mal zu begrüßen und ihn, ein wenig gespielt steif, im häuslichen Kreise willkommen zu heißen und ihm zugleich alles Gute zu wünschen für die am Montag wieder beginnende Schule und so weiter.
Solche kleine Ansprachen beherrschte er wie kein anderer, perfekt formuliert, herzlich vorgetragen und mit einem Hauch von Ironie versehen, der gerade ausreichend war, um jeden Anflug von Pathos auf der Stelle wegzuwischen. Viktor genoss die ungewohnte Aufmerksamkeit, die er da fand, und war plötzlich gerührt ob der freundlichen Fürsorglichkeit seines Vaters.
Rührung, das war ein Gefühl, das er gar nicht kannte – doch, das er schon kannte, aber das er schon lange nicht mehr und eigentlich nur ein einziges Mal erlebt hatte. Das war, als er vor ein paar Jahren als kleiner Junge allein mit seinem Vater durch München gegangen war und dieser ihn besorgt gefragt hatte, ob er Hunger habe und einen Wecken wolle oder eine Wurst. Da hatte ihn dieses seltsame Gefühl zum ersten Mal gepackt und ihn so überwältigend von hinten angesprungen, dass ihm die Tränen in die Augen getreten waren, wohl weil ihm sein Vater bis dahin noch nie eine so fürsorgliche Frage gestellt hatte und sie so unerwartet kam; und wohl auch deshalb, weil sein Vater diese sehr praktische Frage mit soviel vornehmer Unbeholfenheit angegangen war – ‚einen Wecken‘ hatte er gesagt. Für solche alltäglichen Dinge war stets seine Mutter zuständig gewesen oder das Kindermädchen oder vielleicht auch die Köchin – er konnte sich nicht erinnern, seinen Vater zu Hause jemals in der Küche gesehen zu haben.
Viktor lächelte am Ende der Ansprache dankbar und lehnte sich behaglich ein wenig zurück, bevor er zugriff, aber er hatte kaum das erste Stückchen Brot zu sich genommen, als ihn sein Vater in scharfem Ton anfuhr und ihn mit einer Vehemenz vom Tisch jagte, wie er das auch bei seinen schlimmsten Übeltaten noch nicht erlebt hatte. Viktor rannte laut heulend die Treppe hinauf in sein Zimmer und warf sich auf sein Bett.
Es dauerte nicht lange, da sah er den Kopf seiner Mutter über sich. Sie schaute ihnen sanft, wenn auch nicht ohne Vorwurf an.
„Du hast aber auch wirklich scheußlich gegessen, Viktor! Mit dem Messer in den Mund!“
Viktor weinte wieder lauter. Es war alles so ungerecht. Wenn sie nicht im Freien gegessen hätten, wäre ihm das nicht passiert. Bei Onkel Xaver auf dem Hof war das ganz anders. Jetzt im Heulen fiel ihm plötzlich vieles aus diesen Tagen dort wieder ein. Die Mahlzeiten am gescheuerten Küchentisch, mit dem kurzen Tischgebet vor Beginn, sie hatten Viktor, der ja an eine weiß gedeckte Tafel mit Personal gewöhnt war, anfangs schon überrascht, aber mehr noch hatten ihn die Vesperpausen unter freiem Himmel beschäftigt. Sie hatten da nicht nur das zügige Trinken aus der Flasche