Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel
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„Man isst net mit de Finger, Viktor!“, hatte ihn Bodo ermahnt, der gleichzeitig auch Ilse, die jüngste der Mägde, unterwies. Aber dass man mit dem Messer essen darf, das hatte Viktor bis dahin auch noch nicht gehört. Ludwig war da großzügiger gewesen.
„Am besten“, hatte Bodo gesagt, „nimmste das Messer erstmal ganz normal in die Faust – nein, andersrum, die Klinge muss auf der Daumenseite herausschauen. So. Wenn du jetzt den Daumen seitlich an die Klinge legst, musste bis fast zur Spitze kommen, dann ist es richtig.“
Dann hatte Bodo ein Stück Käse abgeschnitten, das er mit dem Daumen leicht an die Klinge gedrückt hat, die er dann, mit der Schneide deutlich nach unten gedreht, an den Mund führte.
„So, das muss jetzt geübt werden!“
Bald war Viktor so weit gewesen, dass er, wenn er dabei gut achtgegeben hat, ein Stück Käse zusammen mit einem Stück Brot zum Mund führen konnte, wie das Bodo immer machte.
Als sie beim Holztransport die Waldarbeiter getroffen hatten und nach dem Aufladen von acht Ster Buche sich mit den Arbeitern gemeinsam zum Vespern niedersetzten, hatte Viktor gesehen, dass die alle auf diese Weise aßen, und zwar genau so, wie es Bodo ihnen gezeigt hatte. Es schien auch hier auf dem Lande, bei den Bauern, Knechten und Waldarbeitern, ganz bestimmte feste Regeln wie zu Hause zu geben, nur eben andere. Viktor war nicht entgangen, dass der Vorarbeiter ihm auf die Hand geblickt hatte, als er sich mit seinem Messer der Wurst genähert hat, und er war sich danach sicher gewesen, dass der Vorarbeiter mit ihm einverstanden war.
Je mehr von seinem Kummer Viktor aus sich herausheulte, desto deutlicher stiegen die verlorengegangenen Bilder und Szenen aus den Sommerferien wieder auf. Das war wie bei der fotografischen Entwicklung in der Dunkelkammer, bei der er neulich hatte zusehen dürfen. Er hätte gerne noch weitergeheult und gab sich Mühe zu schluchzen, denn das Weinen gab ihm Trost. Doch schließlich funktionierte das Schluchzen nicht mehr, er war erschöpft, sein Unglück und sein Kummer waren vom langen Weinen fast aufgebraucht.
Aber nicht nur die Bilder vom Vespern unter freiem Himmel waren in ihm wieder aufgestiegen – nach seinem langen Weinen hatte er zum ersten Mal auch wieder die beiden kleinen Katzen deutlich vor sich. Wie ausgelöscht gewesen war diese Stelle in seinem Gedächtnis. Er hatte nur noch gewusst, dass da irgendetwas war, dass da irgendetwas Bedrohliches gewesen sein musste. Jetzt kamen wenigstens einzelne Bilder wieder zum Vorschein, noch keine Abläufe, aber immerhin Bilder, die wie Inseln aus dem Vergessenen herausragten.
Dann erschien, wie er so verheult mit geschlossenen Augen dalag, mit einem Mal der ganze Film wieder: Da hatte es eines Morgens gleich nach dem Aufstehen ein großes Hallo gegeben; Bobette – das war die einzige Katze auf dem Hof, die das Vorrecht genoss, mit ins Haus zu dürfen, ein stilles und freundliches Tier – hatte in der Nacht drei Junge bekommen. Schorschett führte die Kinder zum Katzennest, einem stattlichen Wäschekorb mit vielen warmen Wolltüchern und Stoffresten darin, und blickte immer wieder wie in mütterlichem Stolz von den kleinen Katzen zu den Kindern hin, um deren Überraschung zu sehen. Viktor freute sich, dass die strenge Schorschett so mütterlich sein konnte, obwohl sie selbst ja keine Kinder hatte.
„Sie schlafen noch“, stellte Ludwig fest.
„Nein nein, sie sind noch blind“, wusste Bienchen.
„Ihr dürft sie jedenfalls nicht anfassen, solange sie die Augen noch nicht offen haben und noch nicht laufen können, sonst kann es sein, dass die Alte sie nicht mehr annimmt.“
„Nicht einmal bisschen streicheln?“, jammerte Viktor.
„Oh, die können ja schon schnurren!“ jubelte Bienchen.
„So, raus jetzt!“ rief Tante Georgette.
Es dauerte nur ein paar Tage, und schon fingen die kleinen Katzen an, mit kerzengerade aufgestelltem Schwanz vorsichtig hin- und her zu tapsen. Sie erkundeten die Korblandschaft und versuchten sogar, über den hohen Rand hinweg aus dem Korb heraus zu gelangen. An einer Seite war der Korb etwas schadhaft. Ludwig brach heimlich im Geflecht noch ein paar Stückchen von den Weidenzweigen ab, um das Loch etwas zu vergrößern, und räumte drinnen an der entstandenen Öffnung die Tücher und Lappen noch ein bisschen zur Seite und – schaut nur! – es dauerte nicht lange, bis das erste der Kätzchen vorsichtig seinen Kopf herausstreckte und gleich danach mit allen Vieren draußen stand, die beiden vorderen Pfötchen dicht nebeneinandergesetzt.
„Wir müssen ihnen unbedingt Namen geben, das sind jetzt schon richtige Menschen geworden“, sagte Ludwig, worauf ihn Bienchen lauthals auslachte. Es waren aber nur Kosenamen wie Schnurri, Sternchen und Samtpfötchen, die die beiden Buben mit wachsendem Eifer vorschlugen, oder Namen, die sich eher für Spielzeugtiere eigneten, wie Foxi, Jolli oder Mausi.
„Bist du verrückt?“ rief Viktor, „Mausi geht doch nicht bei einer Katze!“
So ging das hin und her, bis Bienchen schließlich dazwischenrief:
„Halt, so wird das nichts! Erst müsst ihr einmal wissen, ob das Männchen oder Weibchen sind!“
„Bist du ein Weibchen, Bienchen?“ fragte Ludwig und grinste hinterhältig, „wo kann man das sehen?“
Sie kamen tagelang zu keinem Ergebnis, kaum hatten zwei von ihnen einen Namen gefunden, schon wurde er vom Dritten wieder verworfen, wobei freilich erschwerend dazukam, dass sich die drei Kätzchen, alle schneeweiß mit rosigen Schnäuzchen und ebensolchen Ohren, die dazu noch durchscheinend waren, äußerst ähnlich sahen.
Bienchen glaubte, eine vorläufige Lösung gefunden zu haben und häkelte in Windeseile – ‚Stricken dauert doch viel zu lange!‘ – drei winzige Katzenpullover in drei verschiedenen Farben, die sie den Tierchen dann aber gar nicht so leicht anziehen konnten. Alle waren sie am nächsten Morgen überrascht, dass Bobette, die Katzenmutter, die drei Pullover den Kleinen wieder ausgezogen hatte – mit der gebotenen Vorsicht offenbar, denn sie lagen unbeschädigt vor dem Nest.
Viktor wog die Kätzchen täglich auf der Briefwaage von Onkel Xaver und trug die Ergebnisse in eine Liste ein. Stolz verkündete er die rapiden Gewichtszunahmen, wobei er allerdings wegen der Verwechselbarkeit Probleme mit der Zuordnung hatte. Onkel Xaver empfahl, von einem Durchschnittsgewicht auszugehen, was aber Viktor noch weniger zufriedenstellte, weil dieses Gewicht dann wahrscheinlich bei keinem der drei Kätzchen wirklich genau zutreffen würde.
Eines Tages fehlte beim morgendlichen Wiegen eines der drei Kätzchen. Viktor durchsuchte den ganzen Weidenkorb und schüttelte vorsichtig sämtliche Tücher und Decken aus. Dann suchten sie alle im ganzen Haus, in allen Räumen, draußen auf dem Hof und mit immer geringer werdender Hoffnung auch in den Scheunen und auf den Speichern. Nummer drei war verschwunden. Am gelassensten blieb Bobette.
Die Kinder aber wandten sich umso liebevoller den beiden verbliebenen Kätzchen zu und zogen mit ihnen, je tüchtiger diese wurden, durch Hof und Garten zu immer neuen Abenteuern.
Dann tauchte in Viktor diese trostlose Szene wieder auf, die er noch immer nicht recht verstand. Sie tauchte ebenso plötzlich auf, wie sie sich damals auf dem Hof abgespielt hatte: Bodo erläuterte gerade den beiden Buben, dass alle junge Katzen Flöhe hätten, dadurch würden sie dazu erzogen, ihr Fell fleißig zu pflegen, und gerade als Ludwig, am Boden kauernd, daraufhin begann, im Fell des einen der beiden noch immer namenlosen Kätzchen nach Flöhen zu suchen, trat Tante Georgette mit starrem Gesicht aus dem Haus und ging mit entschlossenen Schritten auf die kleine Gruppe zu. Dort fasste sie die Kätzchen an den Hinterbeinen und schlug sie, weit ausholend, mit dem