Etwas Seltenes überhaupt. Gabriele Tergit
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Ringsum blühten Dahlien, höhere, buntere, aufrechtere Dahlien. Auf der Leinendecke stand ein silbernes Kännchen mit dem besten Kaffee der Welt und Tassen und Teller aus dem zartesten Porzellan. Hörnchen waren veredelt aus dem Weizen, der in den meisten Ländern zur Sättigung genügt, nicht zum Genuß. In der Butter war der Duft des Heus, des Wiesenschaumkrauts und der Pechnelken. Eine sanfte Herbstsonne leuchtete.
Ein kleiner Herr mit Pincenez und Gamsbart auf dem Hut setzte sich an den Nebentisch. Kaum saß er, rief er zu seiner Frau: »Siehste da das Firmenschild Cohen? Und da Pinchas, und da Braun? Braun könnten auch Juden sein, meinst du nicht? Überall Juden! Dem muß ein Ende gemacht werden! Unser Führer ist auf dem besten Wege dazu.« Er blätterte in einer Illustrierten: »Hier sind Photos vom Hochgebirge, den erhabenen Alpen. Aber auf den Hütten können Sie Leute finden«, sagte er zu mir hinüber, »die haben keine Ahnung von der erhabenen Schönheit. Sie wissen, wen ich meine? Juden!« Dann fiel sein Blick auf den Namen des Cafés: »Luise!« schrie er voll Angst und Schrecken. »Komm.« Und sie gingen.
»Seinen Kaffee hat er auch nicht bezahlt«, sagte der Kellner.
Wenn der Sturmtrupp 33 einen Abendspaziergang in Berlin machte, lagen hinterher Leute mit eingeschlagenem Schädel auf der Straße. Endlich wurden zwei Sturmmänner angeklagt. Eine junge Baronin hatte den ganzen Vorgang vom Fenster ihrer Apotheke beobachtet. Zwei Arbeiter gingen die Straße entlang und wurden von den SA-Leuten überfallen, schwer verwundet, wobei auch ein Nazi schwer verwundet wurde. Auch der Pfarrer vom Lützow[platz] in Charlottenburg hatte alles beobachtet, ein Mann Gottes, der feierlich seinen Eid ablegte. Er wußte, daß aus dem Wirtshaus geschossen worden war: »Ich sah ganz deutlich den Pulverdampf. Die beiden Angeklagten sind nationale Männer.«
»Fräulein von X sah ganz etwas anderes«, sagte der Richter.
»Natürlich«, sagte ein Nazi, »die Baronin ist ja Kommunistin.«
»Ich habe nie auch nur eine kommunistische Zeitung in der Hand gehabt. Ich bin deutschnational. Ich kann doch nur sagen, was ich sah.«
Und nun kommen ein paar dicke Bürger, der Wirt, der Oberpostschaffner, der Bäcker. Sie hatten im Wirtshaus Skat gespielt. Sie hatten Zigarren geraucht. An den anderen Tischen saßen auch Leute, die Zigarren rauchten. Als sie schießen hörten, öffneten sie die Tür … und dabei kam eine Wolke von Zigarrenrauch nach draußen, der beschworene Pulverdampf des Pfarrers vom Lützow.
Der verwundete Nazi verschwand. Wohin? Er wurde in ein Krankenhaus gebracht. Der Portier des Krankenhauses, der ihn gesehen hatte, machte keine Eintragung. Der Arzt, der ihn gesehen hatte, war nicht herauszufinden, die Krankenschwestern, die ihn gepflegt hatten, waren nicht herauszufinden. Die Polizei fand blutige Sachen des Mannes in einer Kiste im Krankenhaus.
Wer hatte sie dahin gebracht? Alle, Ärzte, Krankenschwestern, hatten sich strafbar gemacht. Aber welcher Arzt, und welche Krankenschwestern? Und dann war der Mann verschwunden.
In München war die Zentralstelle, die Leute weiter beförderte. Hier bekamen sie vom Polizeibeamten Frick, der später in Nürnberg verurteilt wurde, falsche Pässe. Von München fuhren sie nach Innsbruck. In Innsbruck wurden sie wiederum mit Geld und Ratschlägen versehen. Viele fuhren nach Italien. Viele verschwanden auch in Österreich. So organisiert war der Fluchtweg schon 1931.
Bild 7: Auszug aus dem Nachruf von Gabriele Tergit auf Varian Fry, 1967
Die Juden hatten nie einen Fluchtweg vorbereitet, weder aus Deutschland, Österreich oder der Tschechoslowakei. Die Rettungsaktion aus Südfrankreich organisierte der Amerikaner Varian Fry mit Hilfe von Eleanor Roosevelt. Die gemeinsame Flucht einiger Manns, Varian Frys und Alma Mahlers von Marseille über die Pyrenäen nach Spanien und in den Hafen von Lissabon zu den Schiffen nach Amerika ist von den Teilnehmern so verschieden beschrieben worden, daß es einen mißtrauisch gegen jede Geschichtsbeschreibung machen könnte. Franklin Roosevelt hat sich an keiner Rettung beteiligt. Er hätte nur die nicht verbrauchten Einwanderungsquoten für Deutsche von 1933, 34, 35, 36, 37 freizustellen brauchen, um alle deutschen Juden nach dem Novemberpogrom 1938 zu retten. Das tat er nicht. Vielleicht hätte er damit sogar den Krieg verhindert, da Hitler erkannt hätte, wo Amerika stand. Diese Flucht Marseille-Lissabon führt an Weltgeschichtliches. Franco, gewiß keine angenehme Figur, ließ die Flüchtlinge ohne weiteres durch Spanien. Es heißt, Franco sei ein Marrane gewesen, das heißt Abkömmling der zwangsgetauften spanischen Juden von 1490, die an ihrer Religion festhielten. Wenn es also stimmt, daß er aus diesem Grund nach fünfhundert Jahren die Flüchtlinge paß- und visumlos durchließ, so kann man auf den großen Madariaga verweisen, der Kolumbus ebenfalls für einen Marranen hält, der Amerika auf der Suche nach einem Rettungshafen für die verfolgten spanischen Juden entdeckt hat. Madariaga hat hebräische Daten auf Briefen von Kolumbus gefunden. Und ich möchte in diesem Zusammenhang vom PEN-Kongreß in London 1940 erzählen. Wells am Vorstandstisch, Madariaga stand unten. Madariaga sagte oder vielmehr schrie, daß die spanischen Eroberer, die Konquistadores, sich gut gegen die Indianer benommen hätten, besonders die katholischen Priester, von den Angelsachsen im Norden seien sie vernichtet worden. Wells schrie dagegen. »Wo leben sie noch?« rief Madariaga, »in Mittel- und Südamerika. Nicht in den Vereinigten Staaten.«
Bild 8: Brief vom Londoner PEN-Zentrum an Gabriele Tergit, 1940
Was sind große Männer? Mitten in einem uns alle bedrohenden Krieg lauschten wir gespannt auf diesen Disput des protestantischen Engländers mit einem katholischen Spanier. Zu diesem PEN-Kongreß, auf dem sich alle freiheitsliebenden Menschen Europas vereinigt zu haben schienen, kamen auch Dos Passos und Thornton Wilder. Dos Passos stand, wo Madariaga gestanden, unter dem Podium, merkwürdig bescheiden: »Wir flogen«, begann er. »›Werden wir abgeschossen werden‹, fragten wir einander. Aber wir wußten, wir müssen auf die kleine Insel fliegen, wir müssen ihnen zeigen, wir gehören zu euch. Ihr seid nicht allein in eurem Freiheitskampf.«
Ich sehe Dos Passos dastehen, genau wo Madariaga gestanden hatte, genau, was man sich wünscht, der Teilnehmende, der Mitfühlende. Zwei große Amerikaner, die ihr Leben riskierten, um uns allen zu zeigen, hier findet der Kampf gegen das Böse statt. Friedenthal, gewiß kein Pathetiker, sagte zu mir: »Wunderbar gewesen, nicht?«
Wo sind sie heute, die Wells, die Madariagas, die Dos Passos?
Alle im Fernsehen untergegangen?
Ich habe so vor mich hin erzählt von der Nazivorbereitung, sogar eines Fluchtwegs München, Innsbruck, Österreich oder Italien, vom Mangel eines solchen bei den Juden, diesen ewigen Optimisten.
»Und Gott sah hin auf seine Werke und siehe, alles war sehr gut«, den [Fluchtweg] schufen dann Eleanor Roosevelt und Varian Fry, wobei der Deutsche Dieterle sehr half und Franklin Roosevelt sich draußen hielt und der sehr viel mehr gefährdete Franco mitmachte. Ich will nun sieben Jahre zurückgehen und vom letzten Nazi-Prozeß, über den ich berichtet habe, erzählen.
Wanda Schmottek, klein, dick und blond, die Hauptzeugin gegen neun Arbeiter, die wegen Totschlags angeklagt sind. Sie verlangte Ausschluß der Öffentlichkeit, weil sie sich bedroht fühlte.
»Von