SchattenSchnee. Nané Lénard

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SchattenSchnee - Nané Lénard

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      Peter drehte sich um 180 Grad und grinste Wolf an. „Das willste wohl wissen, was? Freut mich! So, hier steht: ALDRIG MOR. Und jetzt könnt ihr euch auch vorstellen, dass da noch ein winzig kleiner Buchstabe fehlen muss, wenn ihr das vor eurem inneren, geistigen Auge ausschreibt.“

      „Du denkst, das letzte Wort hätte MORD heißen sollen?“, hakte Seppi nach.

      „Gut möglich, er könnte gestört worden sein“, überlegte Detlef.

      „Klingt sinnvoll, aber was soll das erste Wort heißen?“, fragte Nadja. „Hat da jemand von euch eine Idee?“

      „Vielleicht ein Name?“, kam es aus dem Rollstuhl. „Möglicherweise heißt die Tote so. Der Mörder wird mit Sicherheit kaum so dumm gewesen sein und seine Visitenkarte dagelassen haben.“

      „Unwahrscheinlich“, erwiderte Detlef. „Wer eine Tote so virtuos inszeniert, kann nicht ganz blöd sein. Dazu gehört schon eine gewisse Raffinesse und Planung.“

      Nadja reichte Peter die Kamera nach oben.

      „Machst du bitte ein paar aussagekräftige Bilder? Mal mit Blitz, mal ohne“, bat sie. „Dann kann die Frau eingepackt werden. Alles Weitere mache ich im Institut, wenn ich meine Finger wieder bewegen kann.“ Sie rieb sich die Hände, die in den Latexhandschuhen ganz kalt geworden waren.

      „Okay“, sagte Peter und nickte den Bestattern zu, die sich dezent zurückgehalten hatten und ein paar Meter weiter weg warteten. „Macht auch keinen Sinn, sie hier weiter zu untersuchen, wenn sie länger tot ist, aber vielleicht solltest du Enno anrufen, damit er den Sektionstisch runterkühlt oder willst du, dass sie sofort auftaut?“

      „Keinesfalls“, erwiderte Nadja, „aber zuerst muss ich sie so haben, wie sie jetzt ist, sonst kann ich einige spezifische Dinge nicht mehr richtig beurteilen.“

      „Dachte ich mir“, sagte Peter und zwinkerte ihr zu. „Wir rücken dann ab, Detlef. Bis später!“

      „Wann denn später?“, fragte Wolf. „Kommst du mich mal besuchen?“

      „Nee“, antwortete Peter frech, „du wirst dich schön in der Ulmenallee einfinden und mit an unseren Ermittlungen teilnehmen – natürlich inoffiziell und eher als Berater, aber wir wollen nicht auf dich verzichten.“ Er blickte in die Runde. Alle nickten. „Gibt wegen der neuen Rampe auch keine Ausrede hinsichtlich deines neuen Fortbewegungsmittels.“

      „Okay“, sagte Wolf gerührt. Sie hatten ihn noch nicht abgeschrieben. Wahrscheinlich glaubten sie mehr an ihn als er an sich selbst.

      „Treffen wir uns doch mit den ersten Ergebnissen am frühen Nachmittag“, schlug Peter vor. „Sagen wir halb vier? Schaffst du das, Nadja?“

      „Ich denke schon. Schaltet mich dann einfach per Skype zu, einverstanden?“, bat sie.

      „Perfekt“, sagte Peter und winkte zum Abschied.

      Wolf beschloss, noch einen Moment zu bleiben, denn Seppi würde jetzt den Bereich unter der Leiche untersuchen. Dabei wollte er ihm Gesellschaft leisten, bevor er wieder in sein Zimmer zurückrollen würde.

      Im Herminenhof

      Eines hatten all diese Einrichtungen gemein, seien es Krankenhäuser, Reha- oder Kurkliniken sowie Seniorenheime: Alle Mahlzeiten gab es wahnsinnig früh. Das Morgengedeck kam zwischen sechs und halb sieben, zu Mittag gegessen wurde spätestens um halb zwölf und das Abendbrot stand schon kurz nach fünf auf dem Tisch. Da tranken manche Leute noch Kaffee, überlegte Wolf, als er sich um 11:27 Uhr im Speisesaal einfand. Heute, wo er vom aufregenden Morgen im Park ganz durchgefroren war, kam ihm die lauwarme Hühnersuppe zu dieser Uhrzeit allerdings wie eine Erlösung vor. Selbst den halb garen Blumenkohl neben einem Kartoffelpüree aus der Tüte verschmähte er nicht, denn er hatte Hunger. Kälte und Anspannung hatten seinen Kreislauf in Schwung gebracht. Seit Langem hatte er sich nicht mehr so lebendig gefühlt.

      Das Essen hier war in der Tat keine Offenbarung, aber gelegentlich brachte ihm seine Moni etwas richtig Leckeres mit. Doch er hatte den Aufenthalt hier gewollt, um ihr in der ersten Zeit nicht zu sehr zur Last zu fallen und natürlich, um körperlich durch die Turbo-Physiotherapie einen enormen Schritt nach vorn zu machen. Wenigstens hoffte er das. Sie würde morgen endlich beginnen. Das war für ihn eine große Erleichterung. Trotzdem freute er sich mehr als alles andere wieder auf sein Zuhause.

      Nach dem Essen legte er sich hin. Richtig schlafen konnte er nicht, dafür war der Vormittag zu aufregend gewesen, aber er döste so vor sich hin. Im Halbdämmerzustand kamen die Erinnerungen der nahen Vergangenheit zurück. Gespräche, die er vor der Organtransplantation geführt hatte, Blicke und Gesten von Ärzten und Schwestern, die sorgenvollen Gesichter seiner Angehörigen und Freunde.

      All das hatte er dem Mörder seines letzten Falles zu „verdanken“. Er war es gewesen, der seinen Sohn in einen tiefen Regenschacht im Höppenfeld angekettet und sie alle nur mit einem Rätsel zurückgelassen hatte. Wäre Moni Kahlert, seine Nachbarin und Verlobte, nicht gewesen, hätte er die Todesangst um Niklas verwinden können? Ihrer beider Liebe, die vielen Gespräche hatten ihn durch diese schwere Zeit getragen. Obwohl er seinen Sohn erst als Erwachsenen kennengelernt hatte, war er ihm mehr als er ahnte ans Herz gewachsen. In den schlimmsten Stunden war er sich dessen erst wirklich bewusst geworden.

      Als er nach Niklas’ Bergung aus dem Schacht mit Seppi von der Spurensicherung dort hinuntergestiegen war, hatte ihn das Grauen gepackt. Man konnte sagen, dass er hinterher nicht mehr derselbe gewesen war. Die Kratzer, das Blut, die Hautreste an den Betonwänden hatte selbst der hartgesottene Techniker schwer ertragen. Es war etwas anderes, wenn man den Menschen kannte, der dort gelitten hatte. Man fühlte die Verzweiflung fast greifbar, mit der der junge Mann versucht hatte, sein Leben zu retten. Wäre das Gitter im Schacht nicht gewesen, hätte er sich in die Beeke spülen lassen können. Die Röhre wäre vom Durchmesser wohl groß genug. Doch er hatte die Stäbe nicht lösen können – nicht mit Steinen, nicht mit bloßen Fingern. Wolf seufzte. Vielleicht auch ein Glück, denn wenn er in dem Betonrohr stecken geblieben wäre, hätte man ihn niemals gefunden. Auch so war es allerhöchste Eisenbahn gewesen. Kurz vor dem Multiorganversagen hatte man ihn geborgen und sofort intensivmedizinisch versorgt. Was folgte, waren quälende Wochen des Hoffens. Jetzt konnte man sagen, dass Niklas dem Tod durch die Leberteillappenspende von Wolf, die beide gut überstehen sollten, von der Schippe gesprungen war. Zumindest hatte es so ausgesehen. Aber Niklas war immer noch sehr schwach. Eine Niereninsuffizienz war das zweite Übel. Da es zu gefährlich gewesen war, mit dem Leberfragment gleichzeitig eine Niere zu transplantieren, verschob man diese zweite, schwere Operation auf unbestimmte Zeit, was regelmäßige Blutwäschen mittels Dialyse zur Folge hatte. So konnte man sich ein paar Monate behelfen, aber im Herbst wurde man sich bewusst, dass eine zügige Lösung gefunden werden musste. Zwar stand Niklas schon seit seiner Einlieferung ins Krankenhaus auf der Liste von Eurotransplant, aber bisher hatte sich kein Spenderorgan finden lassen. Vater und Sohn wussten, dass eine erneute Lebendspende für Niklas unvermeidbar, ja seine einzige Chance war. Wer hätte ahnen können, dass der Eingriff Wolfs Leben erneut und auf andere Weise verändern würde? Selbst wenn man über die möglichen Risiken aufgeklärt wird, glaubt man doch kaum, dass sie eintreten werden. Man hält die Beschreibungen des Arztes, was eventuell passieren könnte, für eine Absicherung der Krankenhausleitung und vergisst das Ganze schnell, nachdem man unterzeichnet hat. Wer zieht schon gerne „Worst Case“ in Betracht, wenn er sich dazu entschlossen hat, einem anderen Menschen das Leben zu retten, vor allem, wenn es sich dabei um den eigenen Sohn handelt?

      Im Dämmerschlaf sah er Doktor Till Niederegger vor sich. Er sah blöd aus mit seiner Eulenspiegelkappe anstatt

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