Leopardenjagd. Edi Graf
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Das Leuchtfeuer der Sturmwarnung, das rings um den Bodensee seine Blinksignale zum Wasser hin aussandte, huschte wie ein orangefarbener Schatten von links nach rechts über die brodelnde Wasseroberfläche, vertauschte für einen kurzen Augenblick das Wellenspiel mit der wankenden Tanzfläche einer Diskothek, um danach wieder den grauen Schatten des tanzenden Wassers zurückzulassen. Jetzt hatte das Boot den Radius des Leuchtfeuers am Landungssteg erreicht und für den Husch eines Augenblicks, in dem das Licht das Wasser streifte, war der gebeugte Rücken eines Mannes zu erkennen, der in durchnässtem Overall, geduckt, ja zusammengesackt im Boot kauerte und die Ruder bewegte.
Ständig glitt ihm das Boot aus der Bahn, zeigte der Bug zu weit nach Osten oder Westen, und doch ließ sich sein Kurs erahnen. Mühevoll kam er voran, Meter um Meter, Wellendach und Wellental, und bei jedem Eintauchen in das Leuchtfeuer schien er der Ufermauer um einen Meter näher gekommen zu sein. Seine Hände, nass glänzende Haut, krampften sich um die Ruderstangen, über die Schulter warf er einen Blick zum nahen Ufer, aus dem Schatten der Kapuze heraus, um sein Ziel anzupeilen. Und er stellte jedes Mal erfreut fest, dass er allein war. Kein Mensch war zu sehen. So hatte er es geplant. Allein und unbeobachtet an einem stürmischen Abend auf dem See.
Das menschengroße Bündel, das im Heck des Ruderboots lag, bewegte sich nicht.
Der Regen ließ etwas nach, und er steuerte das Boot in waghalsigem Manöver an den Resten des ehemaligen Landungsstegs vorbei, schwarzen, baumstammdicken Pfählen, die aus dem Flachwasser des Sees ragten und immer wieder von den Wellen überspült wurden. Er hielt auf das westliche Ende der schmalen Landzunge zu, ein fast kreisrundes Areal, das sich mit dem schmalen Zugangsweg in Form einer Schöpfkelle an der Schlossmauer entlang zum Wasser hin ausdehnte. Im Schatten der efeubewachsenen Mauer stieg er an Land, nachdem er das Boot am schmiedeeisernen Geländer der Ufermauer vertäut hatte.
Er musste jetzt darauf achten, nicht in den Lichtschein des Leuchtfeuers zu geraten, der ein paar Meter auf die Halbinsel hüpfte, bevor ihn der Schatten der Blende verschluckte. Geschickt huschte er an der Mauer entlang und schlich sich geduckt hinüber zu den Bäumen, die das Ziel seiner geheimnisvollen nächtlichen Aktion waren. Als er an dem breiten Gitterportal vorbeikam, gewahrte er den Lichtschein in einem der Fenster im obersten Stockwerk des Schlosses. Doch es war niemand zu sehen. Er verharrte, überzeugte sich davon, dass der Ort seiner Tat nicht von dort oben eingesehen werden konnte, und setzte seinen Weg fort. Er hatte sich viel vorgenommen in dieser Nacht, es war Teil eines langen Plans, den er in den nächsten Nächten durchzuführen gedachte, und er hatte lange Zeit mit den Vorbereitungen verbracht.
Der Mann, der sich in jener sturmgepeitschten Sommernacht den drei Kastanienbäumen näherte, war von hünenhafter Gestalt, doch elegant und geschmeidig, ja fast katzengleich waren seine Bewegungen, kaum knirschte der Kies unter seinen Schritten, kein Atemgeräusch, kein Keuchen war zu hören, als er mit seiner Arbeit begann. Ständig glitt sein Blick hinüber zu dem Weg, dem einzigen Zugang zum halbinselartigen Gelände vor dem Schloss.
Er befand sich hier auf historischem Grund, dem Hafengelände des ehemaligen Klosters Hofen, wo noch zu Zeiten des württembergischen Königs Friedrich die Raddampfer anlegten und Waren aus der Schweiz angeliefert wurden. Drüben, wo heute die Schiffe der Weißen Flotte, aber auch Katamaran und Fähre einliefen, lag damals die Reichsstadt Buchhorn, ebenfalls mit eigenem Hafen, und nachdem Friedrich Kloster und Stadt zusammengelegt und in Friedrichshafen umbenannt hatte, verlor die Schiffslände vor dem Schloss zusehends an Bedeutung. Was blieb, war der idyllische Platz mit seinen Bänken und Bäumen, Geheimtipp für Sonnenuntergänge am Bodensee und zugleich Endpunkt des für die Öffentlichkeit zugänglichen Bodenseeufers im Westen der Stadt.
Seine Hände ruhten auf der feuchten, rissigen Rinde der Kastanie. Er sog den Duft des nassen Holzes ein und schloss die Augen. Der Baum gab ihm Kraft, er schien sein Freund, er war Teil seines Plans. In seinen Gedanken war er wieder daheim, dort, wo es den mächtigsten aller Bäume gab, den Giganten, den von den Göttern im Zorn mit dem Astwerk in der Erde versenkten alten Baobab, dessen Äste wie verkümmerte Wurzeln aus seinem Tonnenstamm ragten, zerfurchte Rinde wie Elefantenhaut, kürbisgroße Früchte, Schattenspender für Impalaharems, Spielplatz für Meerkatzen, Wohnstatt für Nashornvögel. Er hatte die Bäume geliebt, schon als Kind, nicht nur den Baobab, der wie eine Säule den Eingang zu ihrer Farm markiert hatte, auch die Riesenfeigen, Kletterbäume seiner Jugend, den glühend blühenden Flammenbaum und den Sausagetree, dessen längliche Früchte dem Lilablumigen den deutschen Namen Leberwurstbaum eingebracht hatten.
Schon mit vier Jahren war er geklettert wie ein Äffchen, hatte in den Bäumen nach Vogelnestern und Bruthöhlen gesucht, Flughunde von ihren Schlafplätzen vertrieben und eines Tages einen jungen Leoparden mit nach Hause gebracht. Niemand wusste, was seiner Mutter zugestoßen war, warum er allein in der Astmulde gekauert hatte, drei Nächte lang. Abgemagert und mit zerzaustem Fell, von Zecken übersät und ausgetrocknet, hatte er ihn schließlich vom Baum gezerrt, ein fauchendes, kratzendes und beißendes geflecktes Fellbündel mit den schönsten Augen, die er je gesehen hatte, in Gold gefasst, und einer rosaroten warmen Nase.
Chui war sieben Jahre lang sein bester Freund gewesen, wie oft waren er und sein zahmer Leopard durch die Savannen am Uaso Nyiro gezogen, entlang des Braunen Flusses, wo die Netzgiraffen zur Tränke kamen, die schlanken Grevyzebras grasten und die langhalsigen Gerenuks, artistengleich auf den Hinterbeinen stehend, im Dornbusch nach jungen Trieben suchten. Bald hatte Chui gelernt zu jagen. Ein Stallhase war sein erstes Opfer gewesen, dann die Ziege, aus einem Samburukral gestohlen, schließlich die Paviane, die tagsüber frech in den Gemüsegarten von Mom einfielen. Chui hatte sich nachts auf die Lauer gelegt und sich angeschlichen, als die Horde schlief. In jener Nacht starb der erste Pavian, in den folgenden drei weitere. Nie wieder wagte sich ein Pavian in Moms Gemüsegarten.
Nach sieben Jahren kam Chui morgens nicht zurück. Er suchte nach seinen Spuren, durchkämmte das Gelände eine Woche lang. Seine Schlafbäume, seine Lieblingsplätze, das Wasserloch, die Felsen, auf denen er sich mit einer Leopardin gepaart hatte. Am Ende der Woche fand er seine Überreste und die Spuren des Kampfes mit den Löwen. Es musste ein unfairer Kampf gewesen sein. Vier gegen einen. Er hasste unfaire Kämpfe. Heute noch.
Er begrub seinen Freund am Fuß des Baobabs.
Damals, in einem anderen Leben. Ein Jahr später waren sie fortgezogen. Seine Mom und er. Sie hatte sich von seinem Vater getrennt und wollte zurück in ihre Heimat. In dieses kalte Land, wo es keinen Baobab und keine Flammenbäume gab. Nur Tannen und Eichen. Deutsche Eichen. Auch ein mächtiger Baum. Bald kletterte er auf Tannen. Und auf Eichen. Höher hinauf als seine Spielgefährten. Manchmal schlief er dort oben. Allein. Träumte von dem Baobab auf ihrer Farm.
Seine Mom nannte ihn von da ab Chui. Weil er klettern konnte wie ein Leopard. Weil er jagen konnte wie ein Leopard. Weil er dachte und fühlte wie ein Leopard. Und weil er tötete wie ein Leopard. Doch das wusste Mom nicht.
Damals nicht.
Später schon.
Als sie ihn einsperrten.
Unschuldig.
Dann war sie gestorben.
Jetzt