"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel
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Sonntag, 15. März
Gestern habe ich meine alte Lehrerin Fräulein Jadwiga Sikorska getroffen. Auf dem Sächsischen Platz in der Nähe des Obelisken, auf den Kazia und ich, wenn wir uns auf dem Weg zur Schule unbeobachtet fühlten, spuckten. Wie leichtsinnig und sorglos! Wenn Vater das gewusst hätte. Aber wie lang ist das her …
Fräulein Sikorska hat sich kaum verändert. Bleibt wohl ewig ein altes Fräulein. Ich befürchte, dass ich auch so werde, einsam und verbittert. Ein altes Fräulein!
Aber Sikorska kann gut zuhören und ich musste ihr erzählen, vom Gymnasium, von meinen faulen Schülern in Warschau, von den fleißigen Bauernkindern in Szczuki …
Als sie nach meinen Plänen für die Zukunft fragte, wollte ich ihr nicht die Wahrheit sagen und konnte meine Unsicherheit vor ihr schlecht verbergen. Aber die ganz große Angst vor der Zukunft habe ich nicht gezeigt. Das haben wir zeitig genug in unserer Familie mitbekommen: Nur keine Angst zeigen und wenn sie noch so groß ist!
Dienstag, 15. September, Urlaub in Zakopane
Kasimir. Ich habe immer befürchtet, ihm in Warschau wiederzubegegnen. Und nun ist es in Zakopane passiert. Gestern, am vorletzten Urlaubstag, kommt er mir auf einem Waldweg plötzlich entgegen. Ich stand wie erstarrt.
Er faselte von Freude, Liebe, Sehnsucht, Schmerz … wäre vielleicht sogar wieder auf die Knie gesunken, aber ich erwachte aus meiner Lethargie und meine Verachtung muss ihm aus meinen Augen entgegengesprungen sein, denn er wich erschrocken zurück. Ich konnte mein Zittern bekämpfen und ging an ihm vorbei, den steinigen Pfad hinauf.
Noch so eine Begegnung halte ich nicht aus. Paris könnte Lösung und Erlösung werden. Ein anderer Ausweg bleibt nicht. Paris …
Mittwoch, 23. September
An Bronia
… Jetzt, Bronia, verlange ich von Dir eine letzte Antwort. Entschließe Dich, ob Du mich wirklich bei Dir aufnehmen kannst, denn ich, ich kann jetzt kommen. Was ich für meine Ausgaben brauche, habe ich zusammengebracht. Wenn Du also, ohne Dir Entbehrungen aufzuerlegen, mich verköstigen kannst, schreib es mir. Es wäre ein großes Glück für mich … aber andrerseits will ich mich Dir nicht aufdrängen.
Da Du ein Kind erwartest, könnte ich Dir vielleicht nützlich sein. Schreibe mir auf jeden Fall. Wenn mein Kommen irgendwie möglich ist, sage es mir und sage mir auch, welche Aufnahmeprüfungen ich ablegen und bis wann ich spätestens inskribiert haben muss.
Ich bin so außer Rand und Band bei der Aussicht auf meine Abreise, daß ich Dir nichts anderes erzählen kann, ehe ich nicht Deine Antwort habe. Ich flehe Dich an, schreibe mir augenblicklich.
Ihr könnt mich unterbringen, wo Ihr wollt, ich werde Euch nicht zur Last fallen, ich verspreche, daß ich Euch weder Sorgen noch Unordnung machen werde. Ich beschwöre Dich, antworte mir, aber ganz aufrichtig!
Mittwoch, 28. Oktober
Ich schreibe im Zug nach Paris. Es rattert und rumpelt so sehr, dass ich kaum den Federhalter ruhig halten kann. Paris, Sorbonne, ich komme! Auf einem Klappstuhl, im Wagen vierter Klasse. Ich würde selbst laufen oder kriechen, nur um endlich ans Ziel meiner Wünsche zu gelangen. Mein Abschiedsschmerz ist nur ein winziges Teilchen meiner Freude.
Vater, Józef, Kazia, Bronislawa, Henriette – ihr seid nicht aus der Welt, ich kann schreiben und berichten.
So oft war ich schon allein auf mich gestellt, so oft musste ich mit meiner Sehnsucht fertig werden.
Bronia ist extra nach Warschau gekommen, um mir bei den Vorbereitungen für die Abreise zu helfen, Dinge einzupacken, die hier billiger sind als in Paris. »Sind deine Dokumente in Ordnung«, hat sie gesagt, »sonst kriegst du Ärger mit der Grenzpolizei in Alexandrowa, nimm genug Proviant mit«, hat sie geraten, »die teuren Bahnhofsrestaurants wirst du dir nicht leisten können. Fast vierzig Stunden wirst du unterwegs sein. Drei Tage, drei Nächte. Nimm Wolldecken mit, es wird nachts eiskalt sein Ende Oktober …«
Sie dachte an alles, meine liebe Bronia, hat lange genug die Ma ersetzt.
Viel wichtiger als diese praktischen Ratschläge war für mich das Vorlesungsverzeichnis 1891 – 92, wo ich die Lehrpläne studieren konnte. Welche Kurse welche Professoren anbieten und was ich am Ende eines Semesters können muss für eine licence de sciences.
Der Zug fährt an farbenprächtigen Laubwäldern in Deutschland vorbei, gelb, rot, purpur, orange. Wie die Federn im Feuervogel, aus meinem alten Märchenbuch, der seinem Besitzer großes Unglück, aber auch großes Glück bringen konnte.
Ich werde eine finden, und sie wird mir Glück bringen. Ich spüre die Kraft und das Können dazu in mir. Auch aus bunten Blättern lassen sich Federn zaubern. Man muss nur Fantasie haben und das Unmögliche wollen.
Sorbonne – wie wirst du mich empfangen? In einem Monat bin ich 24, jung und aufnahmefähig für alles.
Aber viel zu alt für Marek. Doch er reist mit nach Paris und schaut neugierig aus meinem Rucksack in die dunkle Nacht.
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