"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel
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Montag, 30. März
Übe mich jetzt auch im Zeichnen, versuche La Fontaines Fabeln zu illustrieren …
Donnerstag, 14. Mai
Keinem offenbare ich meine schwärmerischen Neigungen, meine stille Freude an poetischen Liebesgedichten. Selbst Bronia würde mich verständnislos anschauen. Neulich haben wir uns in vertrauter Umarmung fotografieren lassen, das Bild Bronislawa geschenkt und quer darüber geschrieben: »Für eine ideale Positivistin von zwei positivistischen Idealistinnen.«
Dienstag, 2. Juni
Meine Schüler leiden einfach an einer schlechten Vorstellungsgabe. Ich habe ihnen aber erfolgreich das Hebelgesetz an einer Wippe erklärt. Den dicken Gregor so daraufgesetzt, dass ihn auch die kleine Olga hochkriegte.
Gewicht mal Lastarm auf der einen Seite ist gleich Kraft mal Kraftarm auf der anderen Seite. Ein Gewicht kann man leichter hochheben, wenn der Kraftarm auf der anderen Seite viel länger ist. So haben sie es endlich verstanden.
»Gib mir einen Punkt im All, und ich hebe die Erde aus den Angeln.«
Wie klug war Archimedes schon vor 2 000 Jahren!
Freitag, 14. August
»Ja, ich weiß, die Erde dreht sich«, sagte Tamara, eine meiner Schülerinnen, heute, »aber ich muss doch nicht verstehen warum!!! Und noch dazu in den Ferien.« Sie riss mir das Pendel, an dem ich es ihr demonstrieren wollte, aus der Hand, schwang es wie ein Lasso über den Kopf und ließ es davonfliegen. »Gehen wir baden, das macht mehr Spaß«, sagte sie und zog mich zur Weichsel hinunter. Spaß! Als ob wir nur zum Spaßhaben auf der Welt sind!
Freitag, 28. August
Bronia hat meinen Plan akzeptiert. Auch Vater ist der Meinung, dass sie als Ältere zuerst dran ist. Sie schleicht herum wie ein verwundeter Panther. Ihre Mutlosigkeit ist einfach nicht mehr anzusehen. Sie muss endlich an der Sorbonne Medizin studieren, was schon lange ihr sehnlichster Wunsch ist. Ich werde mich um eine Gouvernantenstelle bemühen und so ihr Studium mitfinanzieren. Wenn sie fertig ist und sich als Ärztin niederlässt, wird sie mich nachholen. Es wird nicht leicht werden, aber ich habe wieder ein Ziel!
Donnerstag, 3. September
Gerade vom Stellenvermittlungsbüro zurück. Meine Haare hatte ich wieder wachsen lassen, um Vertrauen zu erwecken. Meine Referenzen und Zeugnisse sind ausgezeichnet, meine Ansprüche nicht hoch, die Aussichten, schnell eine Anstellung zu kriegen, gut.
Donnerstag, 10. Dezember
An Cousine Henriette
Liebe Henriette, seit wir uns getrennt haben, habe ich das Leben einer Gefangenen geführt. Wie du weißt, habe ich eine Stellung in der Familie des Rechtsanwalts B. angenommen. Ein solches Höllenleben wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind!
… Es ist eines jener reichen Häuser, wo man vor Gästen Französisch spricht – ein erbärmliches Französisch –, die Rechnungen ein halbes Jahr lang nicht bezahlt, aber das Geld aus dem Fenster hinauswirft und dabei an dem Petroleum für die Lampen spart. Es gibt fünf Dienstboten, man posiert auf Liberalismus. In Wirklichkeit aber herrscht finstere Dummheit. In süßestem Ton wird bösartiger Klatsch getrieben – ein Klatsch, der an keinem ein gutes Haar lässt.
Meine Kenntnis der Gattung Mensch hat sich hier sehr erweitert; ich habe gelernt, daß es die Personen, die in den Romanen beschrieben sind, wirklich gibt, und daß man mit Leuten, die der Reichtum moralisch heruntergebracht hat, nichts zu tun haben darf …
1886
Freitag, 1. Januar
Heute verlasse ich Warschau. Vielleicht für mehrere Jahre. Ich bin traurig und hoffnungsvoll zugleich. Habe eine Stelle als Hauslehrerin auf dem Gutshof Szczuki bei Przasnysz angenommen. Drei Bahn-, vier Pferdestunden weit entfernt. Meine Hoffnung, nahe bei meiner Familie Geld zu verdienen, hat sich zerschlagen. Auch die Abendkurse, die Vorlesungen bei der »Fliegenden Universität« muss ich aufgeben. Hier in Warschau ist von meinem ersten Monatsgehalt nicht genügend übriggeblieben, um Bronia in Paris im Quartier Latin zu unterstützen. Sie lebt dort in ganz bescheidenen Verhältnissen, und mein Versprechen muss ich halten.
Ich denke oft an Zawieprzyce. Wie schön kann es auf dem Land, in freier Natur sein. Achtzehn Jahre und Marek ist immer noch bei mir.
Es schneit in dichten Flocken, und mir fällt mal wieder Bauer Iwan aus »Schneeflöckchen« ein. Jede Freude hat ein Ende, aber auch der Kummer …
Mittwoch, 3. Februar
An Cousine Henriette
Jetzt bin ich seit einem Monat hier im Hause Z. Ich habe also Zeit gehabt, mich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Bisher geht es mir recht gut. Herr und Frau Z. sind sehr nette Leute. Mit der ältesten Tochter, der achtzehnjährigen Bronka, habe ich eine richtige Freundschaft angeknüpft, die sehr dazu beiträgt, mir das Leben angenehm zu gestalten. Meine Schülerin, die zehnjährige Andzia, ist ein gelehriges Kind, aber sehr verwöhnt und undiszipliniert. Schließlich aber kann man nichts Vollkommenes erwarten.
Maria als Hauslehrerin in Szczuki
… Stell’ Dir vor, daß ich schon eine Woche nach meiner Ankunft auf gar nicht freundliche Weise ins Gerede kam, weil ich wagte, die Einladung zu einem Ball abzulehnen. Es hat mir aber wenig leid getan, denn Herr und Frau Z. sind von diesem Fest um ein Uhr mittags nach Hause gekommen …
Auch bei uns hat es einen Ball gegeben. Ich habe mit viel Vergnügen manche Gäste beobachtet, die der Feder eines Karikaturisten wert wären. Die jungen Leute sind herzlich wenig interessiert; die Mädchen sind Gänse, die den Mund nicht aufmachen, oder sie sind im höchsten Maß aufreizend. Es soll auch gescheitere geben. Bisher aber schien mir meine Bronka eine seltene Perle an gesundem Verstand und Lebensklugheit.
Ich habe sieben Stunden täglich zu arbeiten, vier mit Andzia und drei mit Bronka. Das ist etwas viel, doch was tut’s …
Freitag, 23. April
Warschau im Frühling – wie belebend und wärmend. Fürs Herz und die Sinne …
Ich habe mich so auf Ostern hier zu Hause gefreut. Hätte ich das Fahrgeld sparen sollen, auch um Vaters prüfendem Blick zu entgehen? Er ahnt wohl, dass ich nicht glücklich