"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel

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und unfreundlichen Haushälterinnen. Aber mein Tagebuch nehme ich natürlich nicht mit dorthin. Das öffne ich erst hier zu Hause. Kazia würde mich mit ihrer Neugier nerven. »Was schreibst du da? Zeig doch mal!«

      Aber ihre Mutter verwöhnt uns mit Limonade und Schokoladeneis. Auch meine Ma hat mich oft verwöhnt. Sie fehlt mir so sehr. Fast genau auf den Tag vor zwei Jahren ist sie gestorben. Meine Ma …

       1881

       Dienstag, 15. März

      Heute habe ich mich so gefreut, dass ich nicht an Vaters Ermahnungen gedacht habe, vorsichtig zu sein, und mit Kazia einen Freudentanz auf dem Schulhof aufführte. Das wäre beinahe schief gegangen.

      Zar Alexander II. ist tot. Eine Dose mit Dynamit hat seine Kutsche getroffen. Er ist ausgestiegen, weitergelaufen, und dann hat ein Student ihm noch eine Sprengbombe vor die Füße geworfen.

      Fräulein Mayer, die mich sowieso nicht leiden kann, sah uns tanzen. Warum wir tanzen, hat sie gefragt. »Weil uns nach tanzen zumute ist«, hab ich gesagt. Sie hat geschrien: »Ob wir denn nicht gehört hätten, dass heute der Zar ermordet und Staatstrauer angesagt ist?« Wir haben ihr den Rücken zugedreht und sind gegangen. Vielleicht wird unser Land nun befreit? Oder kommt ein neuer Zar? Ich hoffe sehr, dass unser Leben freier und besser wird!

       Dienstag, 29. März

      Ein neuer Zar. Alexander III. Alles Wünschen vergebens …

       24. Dezember

      Wie haben wir uns alle auf das Weihnachtsfest gefreut! Es beginnt bei uns, wenn der erste Stern abends aufgeht. Dann ist auch das Fasten zu Ende und eine große, bunt bedruckte, eckige Oblate wird gebrochen und verteilt. Weil alle in der Familie das Leben miteinander in Liebe teilen wollen. Gerade Weihnachten fehlt Ma am meisten.

      Bronia und Tante Lucia haben den Baum geschmückt. Silbern glänzende Kugeln, silbernes Lametta und weiße Kerzen. »Schlicht und schön, so soll er stehen«, hat Vater gesagt. Auf dem festlich gedeckten Tisch wird jedes Jahr auch ein Gedeck aufgelegt für einen unerwarteten Gast. Tante Lucia sagt, die Heilige Familie könnte ja anklopfen. Aber es ist bisher noch nie passiert und außer Tante Lucia glaubt wohl keiner bei uns daran. Unter dem Tisch liegt immer ein kleiner Ballen Stroh, aus dem sich jeder einen Halm zieht. Józef hat den längsten gezogen und man sagt, er wird nun auch am längsten leben. Im vorigen Jahr hatte Vater den längsten gezogen. Er hat mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: »Das wäre ja furchtbar, wenn ich euch alle überlebe …«

      Unter dem Tisch Stroh, aber auf dem Tisch … Ich habe gedacht, der muss zusammenkrachen von dem Gewicht. Karpfen in Biersauce, unseren polnischen Borschtsch, Piroggen, Hering in Öl, Bratfisch und Fisch in Aspik, Krautgerichte und Gemüsesalate. Mohnkuchen … Ich konnte fast nichts essen, vor lauter Aufregung und warten auf den Sternenmann. Ich habe ein Tabellenbuch bekommen, mit allen 66 bisher bekannten Elementen, periodisch angeordnet nach Mendelejew. Vater war der Sternenmann und ich bin ihm vor Freude um den Hals gefallen.

       1. Weihnachtsfeiertag

      Fast bis Mitternacht haben wir gestern kolędy, Weihnachtslieder, gesungen und sind dann zur pasterka, der Hirtenwache, in die Kirche gegangen. Es war eiskalt, der Himmel sternenklar, der Schnee knirschte unter unseren Schuhen und die Glocken begannen zu läuten. Eine heilige Nacht, die ich sicher nie vergessen werde.

       1883

       Freitag, 18. Mai

      Zwei Jahre nur gelesen, gelernt, gelesen, gelernt … Wenig gegessen und geschlafen. Keine Zeit fürs Tagebuch.

      Maria im Alter von 16 Jahren

      Nur die Schule hat mir wirklich Spaß gemacht. Ich bin dankbar, dass ich schnell begreife und will diese Begabung nutzen! Immer noch will ich Wissenschaftlerin werden.

       Sonntag, 10. Juni

      Geschafft! Viele Reden über mich ergehen lassen, Hände geschüttelt, Professor Slosarski umarmt, Fanfarenklänge … Zwei scheußliche russische Bücher als Preis erhalten und mit Vater am Arm das Schulgebäude mit einer Goldmedaille um den Hals verlassen. Für immer. Wie stolz wäre meine Ma gewesen … In der flimmernden Hitze glaubte ich ihr Gesicht zu sehen, ihre Augen …

      Mein Bruder Józef hat mir von Robert Koch geschrieben, einem deutschen Arzt und Biologen. Er hat im vorigen Jahr den Bazillus entdeckt, der die Tuberkulose verursacht. Bald wird die Krankheit heilbar sein. Hätte die Wissenschaft nicht schneller sein können? Nur fünf Jahre …

       Freitag, 15. Juni

      Vater will, dass ich ein Jahr »abschalte« und mich erhole. Nicht lerne, sondern beobachte, staune, mich wundre, die Schönheit der Natur genieße. Ich weiß nicht, ob das für mich Erholung sein wird, ob das gelingt. Ein ganzes Jahr ohne Formeln und Zahlen …

       Sonntag, 17. Juni

      Kazia meint, drei Möglichkeiten bleiben einem Mädchen nach dem Gymnasium-Abschluss. Sie hat mit ihrer Mutter darüber gesprochen.

      1 In Paris oder Sankt Petersburg studieren,

      2 Lehrerin an einer Privatschule werden,

      3 heiraten.

      Für mich kommt nur 1. in Frage. Und zwar in Paris, an der Sorbonne. Aber dafür braucht man Geld. Kommt Zeit, kommt Rat … Ich hab schließlich eine Goldmedaille. Kazia schwankte zwischen 2. und 3. Wenn der Richtige käme, meinte sie und lachte. Sie lachte, als ob er schon da wäre. Aber das hätte sie mir bestimmt erzählt. Für mich kommt heiraten jedenfalls vorerst nicht infrage! Natürlich warte ich auch auf den Richtigen. Aber ob der mich dann auch will?

       Sonntag, 1. Juli

      Das Jahr »Abschalten« hat schon begonnen. Vater hat ein Machtwort gesprochen: »Raus mit dir aufs Land!«

      Erst im Zug, dann im Pferdewagen durch Masowien gereist, auf holprigen Wegen, zwischen Kornfeldern, an verfallenen Windmühlen und ärmlichen Blockhäusern vorbei habe ich mein Ziel in Zwola erreicht.

      Wie ein Palast mutet dort das Landhaus von Onkel Wladislaw, Mutters Bruder, im Vergleich dazu an. Und wie fröhlich das Leben sein kann, ohne Formeln und Zahlen!

       An Freundin Kazia im August

       Ich kann sagen, daß ich außer einer Französischstunde, die ich einem kleinen Jungen gebe, und der Übersetzung aus dem Englischen nichts tue, buchstäblich nichts, denn sogar die Stickarbeit, mit der ich mich anfangs beschäftigte, habe ich heute fast völlig beiseite gelegt. Ich lese nichts Ernstes, nur Liebesromane … Ich komme mir auch unglaublich dumm vor, trotz des Reifezeugnisses und trotz der Würde einer Person, die die Schule beendet hat. Nicht selten habe ich Lust, über mich selbst zu lachen, und mit wahrer Genugtuung erwäge ich meinen Mangel an Verstand.

       Wir gehen oft im Wald spazieren. Dort versammeln sich ein paar Dutzend Personen, wir spielen Serso und Schlagball, wovon ich keine Ahnung

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