"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel

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warum hat Gott nur Bronia geholfen? Ist das sein Geheimnis? Oder sollte ich fragen: Warum hat der Doktor nur Bronia geholfen?

       Montag, 28. Februar

      Vater ist spazieren. An der Weichsel. Ich war heimlich in seinem Arbeitszimmer. Ich saß im tiefen braunen Ledersessel. An der Wand gegenüber die große Standuhr mit den zwei Pendeln. Mit meiner Hand habe ich über das Schachbrettmuster auf dem runden Tisch gestrichen. So viele seltene Steine in dem Glasschrank. Auch eine Waage und ein Elektroskop mit einem Goldblatt stehen im Zimmer. Das Beste ist das Barometer mit den goldenen Zeigern auf dem silbernen Zifferblatt. Das sind physikalische Geräte, hat Vater gestern gesagt.

       Sonntag, 12. März

      Schulfrei. Und trotzdem habe ich mit Bronia Schule gespielt. Heute war ich die Lehrerin.

      »Warum sind die Blätter grün?« Bronia wusste es nicht. »Weil sie Chlorophyll enthalten«, habe ich gesagt. Das hatte ich gelesen. Bronia ärgerte sich. Weil ich mehr wusste.

      Sie will Medizin studieren, Józef auch, und Ma gesund machen. Hela will Lehrerin oder Sängerin werden. Manchmal nervt sie mich mit ihrer Trällerei.

      »Du wirst Träumerin«, hat Bronia zu mir gesagt. »Na und«, habe ich geantwortet, »das ist bestimmt der beste Beruf auf der ganzen Welt.«

       Mittwoch, 10. Mai

      Wenn ich nichts hören und sehen will, lese ich. Dann bin ich bei Baba Jaga oder dem Falken Finist. Bei Wasilisa, der Weisen, oder der Tochter des mächtigen Zauberers Koschej. Ich fliege auf dem Feuervogel, der im Innern zu glühen scheint. Eine Feder von ihm kann großes Glück oder Unglück bringen. Die Federn strahlen in Gold, Orange und Rot. Ich möchte so eine Feder finden. Ich hebe sie auf, auch wenn man mich davor warnt.

      »Maria ist frühreif«, hat Ma neulich zu Vater gesagt und dann zu mir: »Lies nicht immer, geh lieber in den Garten.« Zu den frühreifen Äpfeln oder wie, hab ich gedacht.

      Maria, die Weise, so möchte ich einmal genannt werden …

       Montag, 15. Mai

      Ich gehe in die Privatschule von Fräulein Jadwiga Sikorska. Mit meiner Schwester Hela. Ich bin ein Jahr jünger als sie. Trotzdem lernen wir beide in der dritten Klasse. Fräulein Sikorska ist sehr streng. Ich habe viele Fragen, aber ich traue mich nicht immer. Das Fräulein ärgert sich, wenn sie keine Antwort weiß. Lehrerin für Geschichte und Mathematik ist Fräulein Antonina Tupalska. Wir nennen sie Tupcia. Tupcia wohnt bei uns. Jeden Morgen gehen wir mit ihr zur Schule. Ein weiter Weg. Bis zur breiten gasbeleuchteten Lesznostraße, an der Reformkirche vorbei, wo ich getauft wurde, durch die Sächsischen Gärten. Ich denke, Tupcia mag mich. »Du hast ein unglaubliches Gedächtnis«, hat sie mich heute gelobt. Ich bin immer schneller fertig mit meinen Hausaufgaben als Hela und die anderen.

       Donnerstag, 25. Mai

      In der Schule müssen wir russisch sprechen. Befehl vom Zaren. Bei Fräulein Sikorska lernen wir auch polnisch. Aber das ist ein Geheimnis.

      Heute kam Inspektor Hornberg in die Schule. Unerwartet. Die Glocke hat geläutet und uns gewarnt. Fünf Mädchen haben die polnischen Lehrbücher in ihren Schürzen in den Schlafsaal getragen. Unser Fräulein war rot vor Aufregung. »Maria, steh auf und nenne die Ahnentafel der russischen Zaren«, verlangte sie. Ich kann die russische Sprache am besten. Der Inspektor wollte, dass ich ein russisches Gebet aufsage. Mein Herz war ganz hart dabei, aber das konnte keiner sehen.

       Montag, 12. Juni, in Marki

      Wir haben Ferien. Vater hat mich zu den Großeltern Boguski aufs Land gebracht. Oma und Opa haben dort einen kleinen Gutshof. Am liebsten bin ich bei den Kaninchen. Zwei Kätzchen sind auch da. Morle und Weißchen. Wenn ich Milch bringe, lassen sie sich kraulen.

       Freitag, 7. Juli

      Hier ist so viel los, dass ich mein Tagebuch fast vergesse. Es ist Ernte und ich helfe mit. Abends bin ich dann so müde, dass ich gar nicht mehr nachdenken kann.

      Heute gab es mit süßem Quark gefüllte Piroggen. Mein Lieblingsgericht.

       Samstag, 15. Juli

      Gestern hat Großmutter gesagt: »Deine Eltern werden aber staunen, wenn du nach Hause kommst. Die Landluft tut dir gut.«

      Ma ist wieder zur Kur. In Salzbrunn in Schlesien. Wir hoffen alle, dass sie dort endlich geheilt wird.

      Ich bin braun und noch ein bisschen pummliger geworden. »Du isst ja auch wie ein Scheunendrescher«, sagt Großvater. Karol, der Knecht, ist ein Scheunendrescher. In der Scheune drischt er mit einem Flegel auf das Getreide ein. Klar, dass man davon Hunger kriegt.

      Mir schmeckt der Nachtisch am besten. Selbstgepflückte Heidelbeeren oder Brombeeren mit Milch und Zucker. »Den ganzen Tag an der frischen Luft«, hat Großmutter gesagt, »da muss man ja Appetit kriegen. Hau nur tüchtig rein, meine Kleine.« Sie drückte mich so fest, dass ich kaum Luft bekam.

       Samstag, 26. August

      Heute will mich Vater abholen. Ich freue mich auf Bronia, Józef, Hela, Vater und besonders auf meine Ma. Und auf die Schule. Ich will lernen, viel und gut und einfach alles. Aber auch Kätzchen zum Streicheln haben und von Ma geküsst werden.

      Ich denke so oft an Zosia. Ein Platz, der leer und doch besetzt ist.

      Aber das schreibe ich nur in mein Tagebuch. Ma soll nicht traurig sein.

       Mittwoch, 30. August, nach dem Gebet

      »Lass unsere Ma wieder gesund werden«, beten wir alle jeden Abend. Ma ist zurück von der Kur. Aber nicht geheilt. Sie sieht so dünn und bleich aus. Ihre Augen blicken traurig. Ich habe Angst um sie.

      »Fahr auch mal zu den Großeltern«, habe ich zu ihr gesagt. »Dort wird man gesund.« Wenigstens hat sie mir zugelächelt.

       Freitag, 15. September

      Ma geht es besser. Sie hat sogar wieder Schuhe gefertigt. Obwohl sie ganz schmale Finger hat, schneidet sie Sohlen zu. Sie führt die Ahle mit dem Pechfaden durch das Leder. Dabei singt sie. Von einer schönen Müllerin. Ich habe Ma ewig nicht so singen gehört. Mein Herz sang mit.

      Ein gutes Ende für mein erstes Tagebuch. Mein blausamtenes Tagebuch. Bald werde ich neun Jahre alt. Zum Geburtstag wünsche ich mir ein neues.

       1879

       Freitag, 7. November

      »Du bist aber groß geworden«, sagen alle, wenn sie mich lange nicht gesehen haben. So ein Unsinn, Kinder werden eben immer größer. »Und hübsch dazu«, finden sie. Nein, hübsch finde ich mich nicht. Mira aus meiner Klasse ist hübsch, mit ihrem schwarzen Haar und den großen dunklen Augen. Wollen sie mir schmeicheln, wenn sie sagen, ich sei hübsch? Ich bin 1,45 Meter groß, immer noch zu pummlig und meine Haare lassen sich kaum bändigen. Mehr gibt’s zu meinem Äußeren nicht zu sagen. Busen habe ich noch keinen, muss auch nicht sein.

      Geburtstag

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