"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel

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nur bei deinen Büchern hockst«, hat Bronia gesagt, gelacht und hinter dem Rücken ihr Geschenk, ein neues Tagebuch, hervorgeholt. Der rote Ledereinband ist viel zu auffällig, ich werde es mit Packpapier einschlagen.

      Oh, wie lange habe ich nichts aufgeschrieben. Aber nichts vergessen in den drei Jahren.

      Zuerst fällt mir meine Ma ein. Wie schrecklich, schrecklich, schrecklich, schrecklich! Im Mai vorigen Jahres ist sie gestorben. Es war wie bei Zosia. Ein Tag, an dem eigentlich nichts Böses geschehen kann. Sonnenschein, Vogelsang – und dann stand die Welt still.

      In der Kirche habe ich stumm mit Gott gesprochen. Ich war wütend, traurig, vorwurfsvoll und habe immer wieder gefragt: Warum? Warum Zosia, warum meine Ma? Ich konnte Gott nicht erreichen. Kein Laut von ihm drang an mein Ohr.

      Auch das Klavier im Wohnzimmer schwieg. Selbst Marek, mein Bär, war kein Trost für mich.

      Bauer Iwan aus meinem Lieblingsmärchen Schneeflöckchen hätte gesagt: Die Freude ist nicht ewig, so wie der Kummer nicht unendlich ist! Manchmal denke ich immer noch, Ma ist nur zur Kur und ich muss ihr schreiben. Aber wohin? Hier, in mein Buch!

      Meine liebste Ma, der November in Warschau ist grau und windig. Aber wir haben es bei uns im Zimmer warm und die Kerze flackert hell. Nur in meinem Herzen ist so eine Kälte und Finsternis, die nicht weichen will. Keiner traut sich, von dir zu reden, aus Angst, dass ein großes Weinen beginnt. So sitzen wir mitunter stumm und schauen aus dem Fenster oder in das Licht der Kerze und denken an dich. Mein Blick ist verschleiert und ich kann die Schrift nicht mehr erkennen. Vielleicht aber kannst du unsere Gedanken auffangen und wenn ja, dann bitte schicke uns wenigstens ein Zeichen oder noch besser deine Adresse. Das wäre mein schönstes Geburtstagsgeschenk.

       Sonntag, 9. November

      Unsinn, Zeichen und Adresse von meiner Ma! Maria, wie konntest du dir nur so etwas wünschen? Manchmal verstehe ich mich selbst nicht und schüttle über mich den Kopf.

      Dann wieder denke ich, wünschen und hoffen kann man doch so viel und so oft man will. Das kann mir keiner verbieten. Und wenn ich es keinem sage, kann mich auch keiner verrückt nennen.

      Ein Sonnenstrahl fällt auf mein Tagebuch. Vielleicht ist das ein kleines Zeichen von meiner Ma. Sie wird von irgendwoher auf mich schauen. Ich möchte mich an den Sonnenstrahl klammern wie an eine Hoffnung.

       Samstag, 22. November

      Der November ist ein guter Monat zum Lesen, Lernen, Schreiben. Kein Sonnenstrahl lenkt ab. Ich kann mich einigeln, alles um mich herum vergessen. Mein Lieblingsmonat. Ich bin ein Novemberkind.

      Im vergangenen Herbst habe ich die Schule gewechselt und gehe nun aufs kaiserliche Gymnasium Nummer Drei. Hier müssen wir auch in der Pause russisch sprechen und selbst Polnischunterricht wird auf Russisch geführt. Wir werden verdächtigt und bespitzelt. »Aber nur auf einem staatlichen Gymnasium kannst du das Zeugnis erhalten, das du später brauchst, wenn du in Sankt Petersburg oder Paris studieren willst«, hat Vater gesagt. Natürlich will ich. Am liebsten natürlich in Warschau. Józef studiert hier. Ich verstehe einfach nicht, warum Frauen das nicht dürfen.

      Meine Schwester Bronia hat die Schule mit einer Goldmedaille abgeschlossen. Nun führt sie den Haushalt und die Pension. Józef ist auch von der Schule mit einer Goldmedaille gegangen. Ich bin stolz auf meine klugen Geschwister und will ihnen nacheifern. Nur kochen, waschen, putzen, nein, das ist für mich verlorene Zeit.

       Sonntag, 14. Dezember

      Wie immer vor Weihnachten versammelten sich in Vaters Zimmer seine engsten Freunde. Sie debattierten so laut, dass ich es durch die geschlossene Tür hörte. Vater mahnte zur Stille, und sie fingen an zu flüstern. Zwei von ihnen waren wie Mas Bruder Henryk 1863 bei dem Aufstand gegen den Zaren dabei und sind heute noch froh, dass sie mit dem Leben davonkamen. Ich hasse es, mit doppelter Zunge reden zu müssen, nicht frei und offen meine Meinung sagen zu können. Wenn die Polen für ihre Freiheit wieder auf die Straße gehen, ich bin dabei. Doch Vater schärft uns immer wieder ein, vorsichtig zu sein. »Ehe du dich versiehst, landest du in einem Straflager in Russland«, droht er.

       1880

       Donnerstag, 5. Februar

      Wir sind mal wieder umgezogen. Von der Nowolipkistraße in die Lesznostraße. Auch Marek hat den Umzug überstanden. Die neue Wohnung ist viel schöner. Vom Balkon sehe ich lauter kleine weiße Zipfelmützen. Der Schnee hat den Garten zugedeckt, und der Anblick ist lustig und friedlich zugleich. Im Sommer wird Wein an der Fassade und am Balkon hinaufranken. Ich stelle mir schon jetzt vor, wie ich hier sitze und lerne und immer mal wieder eine Weintraube nasche. Auch die Pensionäre werden mich nicht mehr so stören. Jedenfalls ist ihr Esszimmer nicht mehr mein Schlafzimmer.

       Mittwoch, 17. März

      Ich habe eine Freundin, der ich alles erzählen kann. Sie heißt Kazia Przyborowska, ihr Vater ist Bibliothekar beim Grafen Zamoyski. Ihre Familie wohnt im »Blauen Palast« des Grafen, der von einer Löwenfigur bewacht wird. Jeden Morgen hole ich Kazia dort ab. Bevor wir auf die breite Krakowskie Przedmiescie kommen, müssen wir den Sächsischen Platz überqueren mit dem hässlichen Obelisk, den der Zar nach dem Novemberaufstand dort errichten ließ. Klobig, mit grässlichen doppelköpfigen Adlern, höher als die Häuser ringsum. Er ist für die Polen errichtet, die während des Aufstandes dem Zaren treu blieben. Wenn wir uns unbeobachtet fühlen, spucken wir beim Vorübergehen auf das Denkmal. Im Palast auf dem Platz residierte einst unser König, jetzt sind Russen dort.

      Auf der Krakowskie Przedmiescie geht es immer lebhaft zu. Wir müssen aufpassen, nicht überfahren zu werden von beladenen Fuhrwerken oder von prächtig polierten Kutschen oder von den Pferdewagen, die in der Mitte auf Schienen fahren. Unsere Schule befindet sich im ehemaligen Kloster der Visitantinnen im ersten Stockwerk. Im Erdgeschoss verkauft Herr Wosinski in seinem Geschäft Uhren aus Genf.

       Donnerstag, 15. April

      Mein Lieblingslehrer ist Professor Slosarski. Er unterrichtet Naturwissenschaften und führt uns, wie er es nennt, an die »Wunder der Welt« heran. »Du hängst ja an seinen Lippen«, hat Kazia mich heute geneckt. Aber ich sauge wirklich alles auf, was er sagt. Ich habe längst gemerkt, dass nicht alle russischen Lehrer unsere Feinde und Freunde des Zaren sind.

      Heute hat er uns von Dmitri Mendelejew erzählt, der den Zusammenhang zwischen Atomgewicht und den Eigenschaften der chemischen Elemente entdeckt hat. Er ordnete alle bekannten Elemente in einer Tabelle an und nannte sie das Periodensystem. Mit diesem System konnte er sogar noch die Entdeckung neuer Elemente vorhersagen. In Paris hatte er sich dazu in seiner Wohnung ein kleines Labor eingerichtet und geforscht.

      Mendelejew war wie Ma an Tuberkulose erkrankt, konnte aber auf der Insel Krim geheilt werden. Er war das jüngste von siebzehn Kindern und seine Familie war sehr arm.

      Ich habe so große Hochachtung vor diesem Mann. Und einen Traum: Ein Labor in Paris!

      Kazia verehrt Professor Gloß, der Mathematik unterrichtet. Sie ist sogar verknallt in ihn. Obwohl er ein Russe ist. Aber er ist klug, sieht auch noch wahnsinnig gut aus und schikaniert uns nicht.

       Donnerstag, 20. Mai

      Heute bin ich, wie so oft nach der Schule, noch mit zu Kazia gegangen und wir erledigten gemeinsam Hausaufgaben.

      Ihr

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