"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу "Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht" - Christina Seidel страница 2

Скачать книгу

den »Waffen« Wissenschaft, Handwerk und Handel erreichen wollte, hatte auch seine fünf Kinder in diesem Sinne erzogen. Sie sollten sich nicht ducken vor dem zaristischen Regime, sich aber auch keiner unnötigen Gefahr aussetzen. Beständig versuchte er, das naturwissenschaftliche Interesse bei ihnen zu wecken und ließ sie staunen über die neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen. Und es gab genug zu staunen in diesen Zeiten. Die ersten fünfundzwanzig Jahre in Marias Leben – bis zu ihrem Umzug nach Paris – sind auch ein Vierteljahrhundert der für die Menschheit bedeutendsten Entdeckungen.

      Es wurde heller auf der Welt. Der Amerikaner Edison, ein Erfinder auf vielen Gebieten, hatte die Glühlampe entwickelt. Auch einen Phonografen, ein Gerät zur Tonaufnahme und Tonwiedergabe. Nun konnte man seine Stimme konservieren lassen. 1871 baute er eine funktionsfähige Schreibmaschine. Dreizehn Jahre später ließ sich der Amerikaner Waterman den Füllfederhalter patentieren. Im gleichen Jahr begannen die Bilder zu laufen. Der Stripping Film, ein papierner Rollfilm, wurde entwickelt.

      Nikolaus August Otto konstruierte 1876 einen Verbrennungsmotor, zehn Jahre später fuhren die ersten Motorräder und Autos mit einem Benzinmotor. In Marias Verwandtschaft konnte sich zu diesem Zeitpunkt niemand ein Auto leisten. Aber das Fahrrad kam in Mode und wurde später als Fortbewegungsmittel für Maria unentbehrlich. 1890 ließ sich der schottische Tierarzt John Boyd Dunlop den pneumatischen Gummireifen patentieren.

      Eine Entdecker-Sensation löste die andere ab. Graham Bell entwickelte das Telefon des Deutschen Philipp Reis so weit, dass eine Verständigung möglich wurde, später wurde es von Edison vervollkommnet. Über Tausende Kilometer hinweg konnte man sich unterhalten.

      Mendelejew ordnete die Elemente nach steigender Kernladungszahl im Periodensystem und damit ließ sich die Existenz unbekannter Elemente vorhersagen. Ernst Mach gelang es Schallwellen sichtbar zu machen und der damals zwanzigjährige US-Amerikaner Wilson Bentley fotografierte die erste Schneeflocke unter dem Mikroskop. Nur ein Jahr älter war Pierre Curie, Marias späterer Ehemann, als er mit seinem Bruder Jacques eine hochempfindliche Waage konstruierte und die Piezoelektrizität entdeckte.

      Und wie freuten sich die Menschen, als Robert Koch 1882 den Tuberkulosebazillus aufspürte. Für Marias Mutter jedoch, kam die Entdeckung zu spät. Sie war, wie so viele, bereits an der »weißen Pest« gestorben. Marias Geschwister Józef und Bronia begannen Medizin zu studieren und Bronia eröffnete später mit ihrem Mann in Zakopane ein Sanatorium für Tuberkulose-Patienten. Unterstützt wurden sie dabei von ihren Freunden, dem weltberühmten polnischen Pianisten Ignazy Paderewski, der Präsident des befreiten Polens wurde, und dem Schriftsteller Henryk Sienkiewicz, der viele historische Romane schrieb, mit »Quo Vadis« weltberühmt wurde und 1905 sogar den Nobelpreis für Literatur erhielt.

      1891, in dem Jahr als Maria ihr Studium an der Sorbonne begann, schlug der irische Physiker George Johnstone Stoney die Bezeichnung »Elektron« für die kleinste Ladungseinheit vor. Er vermutete, dass die Elektrizität aus Elementarteilchen besteht.

      Es gab genug Wissenschaftler, denen Maria nacheifern konnte, genug Geheimnisse, die auf ihre Entdeckung warteten, genug Vermutungen, die bewiesen werden mussten, genug zum Wundern und Staunen. Das Tor zur wissenschaftlichen Welt stand ihr offen …

      »Die Freude ist nicht ewig,

      so wie der Kummer nicht unendlich ist!«

       Aleksander Nikolajewitsch Afanasjew, aus: »Schneeflöckchen«

       1875

      »Man nennt mich Mania. Aber ich heiße Maria. Maria Skłodowska und bin heute acht Jahre alt geworden.«

      So hätte Marie einst ihr Tagebuch beginnen können. Hätte sie? Hätte sie.

       Sonntag, 7. November, nach meiner Geburtstagsfeier

      »Du bist die Hauptperson«, hat Ma gesagt. Ich will keine Hauptperson sein. Ich bin Maria. Alle haben mich angeguckt. Vater und Ma, Großvater und Großmutter, meine vier Geschwister. Ich sollte mich freuen.

      Ich habe mich gefreut. Über das Tagebuch. Der Umschlag aus blauem Samt. Das kleine Schloss. Zwei Schlüssel. Die muss ich verstecken. Denn, was man ins Tagebuch schreibt, ist geheim.

      Vater hat gesagt: »Schreib ein, was du nicht vergessen willst oder ein kleines Geheimnis.«

      Was ich nicht vergessen will? Ich vergesse nichts. Ich kann besser lesen als meine großen Geschwister.

      Kleines Geheimnis? Das gibt es nicht. Nur ein großes. Dass Marek nicht Janek ist. Ich weiß das. Marek sieht aus wie Janek. Aber er ist nicht Janek. Sie lügen. Ich weiß das. Warum lügen sie? Nur damit ich nicht traurig bin?

      Ich bin genau einen Meter zehn groß, ein bisschen pummlig, sagen sie alle, habe dickes blondes, lockiges Haar, das ich meist mit einem schwarzen Samtband bändige. Meine Augen sind grau, manchmal auch grünlich oder blaugrau. Das ist vom Licht abhängig.

      Wo ich geboren wurde? In einer Schule. In einer Schule werden selten Kinder geboren. Aber ich. »In der privaten Mädchenschule, in der Fretastraße 16«, sagt Vater. »Im hinteren Gebäude.«

       Montag, 8. November

      Meine Hand tut weh, vom Schönschreiben in mein Tagebuch. Aber das ist unwichtig. Ich will in das Buch über früher schreiben. Weil es mit dem Anfang beginnen soll. Mit meinem Leben. Wie es war, als ich geboren wurde? Das hat mir meine Ma erzählt. Sie war damals Direktorin in der Mädchenschule. Und hatte vier Kinder. »Rechne aus, wie alt sie damals waren«, hat Ma gesagt. Ich kann nicht nur gut schreiben und lesen, ich kann auch gut rechnen. Zofia war fünf Jahre, Józef vier, Bronislawa zwei und Helena war ein Jahr alt.

      Dann gab es ein großes Unglück und ein Glück. Meine Ma wurde krank. Eine schlimme Krankheit. Tuberkulose. Aber mein Vater wurde Direktor. Stellvertretender. Im Warschauer Knabengymnasiums. Dort gab es eine schöne große Wohnung für uns. Leider nur für fünf Jahre. Mein Schmusebär Janek kam nicht in der neuen Wohnung an. Er blieb für immer verschwunden. Ma hat mir Marek gegeben, aber Marek ist nicht Janek. Ich will ihn trotzdem lieb haben und mit ihm schmusen.

       Dienstag, 9. November

      Ich hasse den russischen Zaren. Vater hat beim Abendessen gesagt, dass er niemals vor den Russen buckeln wird. »Buckeln?«, habe ich gefragt. »Was heißt buckeln?«

      Die Fretastraße im 19. Jahrhundert

      »Alles machen, was die Russen in unserem Land verlangen. Wir sind und bleiben Polen.«

      Vater verlor seine Arbeit. Weil er nicht buckeln wollte. Und wir mussten wieder umziehen. Raus aus der schönen Wohnung.

      Ich werde trotzdem nie buckeln! Das nehme ich mir ganz fest vor! Nie, nie, nie!

       Mittwoch, 10. November

      Ma liegt nebenan auf dem Sofa. Sie hustet so furchtbar, dass auch mir die Brust weh tut und ich kaum ruhig schreiben kann.

      Ma wurde krank, als ich in ihrem Bauch war. »Wegen mir?«, habe ich Vater gefragt. »Nein!« Er hat wild mit dem Kopf geschüttelt.

       Sonntag, 14. November

      Es

Скачать книгу