"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel

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In einem anderen Land. In Frankreich. Mit meiner großen Schwester. »Zosia ist mir Trost und Hilfe«, sagt Ma. Ich möchte auch Trost und Hilfe sein. Ma fehlt mir sehr. Ich weine, wenn es keiner sieht. Tante Lucia hat es gestern Abend gesehen. Sie wollte mich trösten. Ich sollte mit Marek, meinem Bärchen, schmusen.

      Aber Marek ist nicht meine Ma, Tante Lucia ist nicht meine Ma, Bronia nicht und Vater auch nicht.

       Montag, 15. November

      Ich habe Ma gestern geschrieben. Sie soll keine Angst haben, dass sie uns ansteckt und bald zurückkommen. Ich trinke auch nicht aus ihrer Tasse, esse nicht von ihrem Teller. Auch Küssen ist verboten. Streicheln nicht. Ich will auf Mas Schoß sitzen. Ich will meine Ma zurück.

       Mittwoch, 17. November

      »Schreib mal über deine Lieblingsbeschäftigungen«, hat Vater gesagt. Was ich am liebsten mache? Lesen natürlich. Seit vier Jahren. Und nichts davon will ich vergessen.

      Meine große Schwester Bronia hat mir das Lesen beigebracht. Wir haben Schule gespielt. Karten mit Buchstaben aneinandergelegt. Plötzlich konnte ich besser lesen als Bronia. Sie war beleidigt. »Lesen ist doch so einfach«, habe ich gesagt.

      Nicht alles ist einfach. Nicht vor dem Zaren buckeln und ohne Ma am Tisch sitzen, nein, das ist nicht leicht.

       Samstag, 20. November, Nebel

      Alles hat sich versteckt. Hinter einer grauen Wand. Ich möchte mich auch verstecken. Vorhin, beim Lesen, als ich die Siebenmeilenstiefel des Däumlings anhatte und in die Welt hinaus wollte, aber in der Küche helfen sollte.

      Gedenktafel: Am 7. November 1867 erblickte Marie Skłodowska-Curie in diesem Haus das Licht der Welt. Im Jahre 1898 entdeckte sie die radioaktiven Elemente Polonium und Radium

       Mittwoch, 1. Dezember, schon dunkel

      Der Regen prasselt an die Fensterscheiben. Der Wind pfeift. Ich bin froh, im Zimmer zu sein. Wir haben wieder Schule gespielt. Diesmal war Vater der Lehrer. Geografieunterricht. Wir haben Bauklötzer bemalt. Bronia als Kontinente, Hela als Länder, Zosia die Städte, Józef Berge und ich Flüsse. Dann haben wir sie wie eine Landkarte zusammengelegt. Keiner konnte mehr treten im Zimmer, aber es hat Spaß gemacht. Vater ist stolz, weil wir uns so gut in Geografie auskennen.

       Mittwoch, 15. Dezember, nach den Leibesübungen

      Vater liebt Leibesübungen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen müssen wir alle antreten. Vaters Gedächtnis ist so gut wie meins. Er vergisst das nie.

       Montag, 20. Dezember

      Meine Ma ist wieder zu Hause. Ich war so froh, aber gestern haben sie gestritten. Vater und Ma. Ich lag im Bett und schlief noch nicht. Sie haben ein Geheimnis. Es ging um den Bau einer Dampfmühle. Onkel Henryk, Mas Bruder, ist schuld. Oder doch Vater und Ma, weil sie ihm geglaubt haben. Es sei gut, mit unserem Geld die Mühle zu bauen, hat der Onkel gesagt. Er ist Künstler und war Partisan. Er hat bei einem Aufstand gegen den Zaren mitgekämpft. Vier Jahre musste er dann nach Sibirien. Künstler und Partisan, Künstler und Müller? Es hat nicht funktioniert mit der Mühle. Nun ist das ganze Geld weg. 30 000 Rubel. Das ist so viel, wie ich mir gar nicht vorstellen kann.

       Sonntag, 26. Dezember

      Es schneit. Schon den ganzen Tag. Als ob Wattebäusche zur Erde fallen. Ich habe mit Vater aus dem Fenster gesehen. »Jetzt spreche ich wissenschaftlich mit dir«, hat er gesagt. Ich war sehr stolz. Nun weiß ich, dass eine Schneeflocke aus vielen weißen Schneekristallen besteht. Bei Kälte sind sie durch kleine Wassertropfen verklebt. Die Kristalle sind durchsichtig wie Eis. »Transparent«, sagt Vater. Ich habe mir alles gemerkt, was er erzählt hat. An den Grenzflächen zwischen den Eiskristallen und der Luft wird das Licht zurückgeworfen. »Reflektiert und gestreut«, sagt Vater. Der Schnee erscheint daher weiß. Wie beim Salz. Ich will eine Wissenschaftlerin werden!

       Dienstag, 28. Dezember, nach der Schule

      Mein Lieblingsmärchen ist »Schneeflöckchen« von Afanasjew. Es beginnt im Winter, als es schneite, so stark wie seit Tagen bei uns. Da bauten Bauer Iwan und seine Frau Maria ein Schneemädchen. Sie hatten sich schon lange ein Kind gewünscht. Sie gaben ihm eine Nase, Augen und einen Mund. Plötzlich kam warmer Atem aus dem Mund. Es öffnete die Augen und die Lippen begannen zu lächeln. Schneeflöckchen wackelte mit Armen und Beinen wie ein Baby. »Gott hat uns ein Kind geschenkt«, schrie Maria vor Freude. Aber ihr Mann sagte: »Die Freude ist nicht ewig, so wie der Kummer nicht unendlich ist!«

      Als das Schneemädchen so alt war wie ich, ging sie mit ihren Freundinnen in den Wald. Sie sprang dort über ein Feuer. Plötzlich war sie verschwunden. Nur eine kleine Wolke war zu sehen, die langsam in den Himmel flog. Ich möchte auch fliegen können. Aber ich will immer zurückkommen.

      Marias Eltern Bronislava und Władisłav Skłodowski

       1876

       Samstag, 15. Januar

      Wir sind ein Pensionat. Schon seit drei Jahren. Als Vater entlassen wurde, weil er nicht buckeln wollte. Zehn Gymnasiasten wohnen jetzt bei uns. Sie sind laut. Sie werfen Papierkügelchen nach mir. Sie stellen mir ein Bein. Mein Tagebuch habe ich unter meiner Matratze versteckt. Die Schatzkiste mit den Schlüsseln unterm Bett.

      Vater sagt, wir brauchen das Geld der Gäste. Mas Krankheit kostet viel. Ich esse gar nicht so viel und ziehe Bronias oder Zosias alte Sachen an. Schulgeld müssen wir aber auch bezahlen.

       Donnerstag, 20. Januar

      Ich habe wahnsinnige Angst. Ignaz, einer der Pensionsgäste, hat Typhus. Oft habe ich ihn zum Teufel gewünscht. Aber Typhus!? Das ganz Furchtbare ist: Er hat Bronia und Zosia angesteckt. Ich darf nicht in ihr Zimmer. Aber ich stand in der Tür, als Dr. Lebednikow kam. Zosia hatte die Augen geschlossen. Der Doktor hat ihr mit einem Tuch den Schweiß aus dem Gesicht getupft. Das Bettzeug war zerknittert, das Laken nass.

      Lieber Gott, bitte hilf …

       Montag, 31. Januar

      Zosia ist tot. Ich will das nicht glauben. Sie soll nur schlafen und wieder aufwachen. Vaters Augen sind rot vom Weinen. Ma hat sich eingeschlossen. Ich habe gebetet. Hat Gott es nicht gehört? Bitte lass uns Bronia. Bitte!!!

      Die Sonne scheint, kein Wind weht. Die Zeit steht still. Aber die große Standuhr tickt laut.

       Sonntag, 20. Februar

      Regentropfen zerfließen am Fenster. Ich sehe die Welt draußen nur noch verschwommen. Ma spielt Klavier und singt: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind … erreicht den Hof mit Müh und Not, in seinen Armen das Kind … Ich halte mir die Ohren zu. Sie singt nicht, sie schreit, laut und wütend.

       Dienstag, 22. Februar

      Bronia ist

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