"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel

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       Freitag, 15. August, immer noch in Kępa

      Heute haben wir den 14. Hochzeitstag unserer Gastgeber gefeiert. Ein ungleiches Paar. Der Graf ist schon ziemlich alt, aber ein Ästhet und Feinschmecker, die Gräfin, seine zweite Frau, wohl 30 Jahre jünger, ist unwahrscheinlich lebenslustig und charmant.

      Wir haben sie auf zwei hochlehnige Sessel gesetzt aus feinstem Plüschbezug und ihnen einen Kranz aus Karotten, Rosenkohl, Zwiebeln und Steckrüben, verziert mit bunten Bändern geschenkt.

       Dienstag, 2. September, wieder in Warschau

      Zurück aus einer anderen Welt … Im Dunklen, Minuten vor dem Einschlafen bin ich manchmal noch in Kępa … verrückt, ausgelassen, eine andere Mania als hier, wo lauter ernste Gesichter mich umgeben …

      Vater ist älter geworden, aber wie eh und je an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen interessiert. Bronia bügelt ihm die Hemden, bürstet seine Anzüge. Nur das Schuheputzen übernimmt er selbst. Auch für Hela und mich. So sind wir heute am Sonntag bei wolkenlos blauem Himmel, also mit glänzenden Schuhen an dem sandigen Ufer der Weichsel entlangspaziert. Von der Neustadt der Sonne entgegen zur Altstadt im Süden. An der Marienkirche mit ihrem weithin sichtbaren Turm vorbei, den Königstrakt entlang bis zum Potocki-Palais. Wie viele Baumeister sich an seiner Architektur schon versucht haben. Vater kann sie alle aufzählen: Piola, der den Palast im 17. Jahrhundert mit barockem Garten für die Magnatenfamilie Dönhoff errichtete. Schröger, der ihn im Stil des Rokoko umbaute. Samuele Contessa, Redler und Zeisel, die die Bildhauerarbeiten gestalteten. Vor 100 Jahren war es Boguslaw, der ihn Zug um Zug veränderte, auch das klassizistische Säulenportal schuf. Ende des vergangenen Jahrhunderts arbeitete der Maler Antonio Tombari an dem Gebäude. Und 1860 errichteten die Brüder Marconi den Ausstellungspavillon auf dem Schlosshof, der voriges Jahr, wie Vater erzählte, der Zacheta-Galerie zur Verfügung gestellt wurde. Wir liefen durch die gegenwärtige Ausstellung von Michałowski, Matejko und Gierymski. Interessante Bilder, die den Übergang vom Rokoko zur Moderne zeigen.

      »Aus dir ist eine junge Frau geworden«, hat Vater am Abend zu mir gesagt.

      »Na weißt du nicht, dass ich in zwei Monaten schon siebzehn werde«, habe ich gesagt.

       Freitag, 26. September

      Gemeinsam mit Hela ein Scheltgedicht an die Söhne von Onkel Zdzisław in Skalbmierz geschrieben, weil die Burschen unsere schönen langen Briefe nicht beantworten. Wir haben ihnen eine Impfung gegen »Schreibphobie« vorgeschlagen, ähnlich der Impfung gegen Tollwut.

       Mittwoch, 8. Oktober

      Heute hat mich Vater in sein Arbeitszimmer geholt und mir physikalische Vorträge gehalten. Er erklärte mir die elektrischen Einheiten Volt, Ampere und Ohm, mit denen man die Spannung, den Strom und den Widerstand messen kann. Er redete über wichtige Entdeckungen. Zum Beispiel, dass manche Kristalle elektrische Eigenschaften haben. Vorausgesetzt, sie besitzen, wie zum Beispiel Quarz, kein Symmetriezentrum. »Stell dir vor«, sagte Vater, »die Ladungen sind Kugeln auf einer Ebene und der Ladungsmittelpunkt ist der S c h w e r p u n k t. Wenn Plus und Minus nicht aufeinanderliegen, entsteht ein Dipolmoment. Vor vier Jahren hat das der einundzwanzigjährige Franzose Pierre Curie herausgefunden und als Piezoelektrizität bezeichnet.«

      Vater behauptet, dass bereits in wenigen Jahren in den meisten Ländern der Welt die Menschen nicht mehr bei Kerzenschein oder mit Hilfe von Gaslampen lesen werden, sondern im hellen elektrischen Licht. Er hat von Edison erzählt, einem amerikanischen Wissenschaftler, dem wir das zu verdanken haben. Im vergangenen Jahr entdeckte der den glühelektrischen Effekt. »Stell dir vor«, hat Vater gesagt, »Elektronen gelingt es aufgrund ihrer thermischen Bewegung aus dem Metall bzw. der Oxidschicht herauszutreten. Sie bilden um die Glühkathode im Vakuum eine Raumladungswolke und laden in der Nähe befindliche Elektroden gegenüber der Kathode negativ auf. Dieser Effekt kann zur direkten thermischen Erzeugung von elektrischer Energie genutzt werden.«

      Ich bin froh, dass ich mir das vorstellen und merken kann.

      Vater hat gesagt: »Wir leben im Jahrhundert der unglaublichsten Entdeckungen. Nie wieder werden die Menschen der Natur in relativ kurzer Zeit so viele neue Erkenntnisse abringen.«

       Freitag, 7. November

      Vater hat mir einen großen Geburtstagswunsch erfüllt: Das Buch »Schuld und Sühne«, von Dostojewski. Dieser russische Dichter gehört neben unseren Dichterfürsten Juliusz Słowacki und Adam Mickiewicz gegenwärtig zu meinen Lieblingsautoren.

      60 000 Menschen sollen bei Dostojewskis Beerdigung vor vier Jahren in St. Petersburg dabei gewesen sein!

      Aus »Pan Tadeusz oder Der letzte Einritt in Litauen«, diesem riesigen Versepos in zwölf Büchern von Mickiewicz, lesen wir uns auch oft gegenseitig vor. Ich liebe diese literarischen Samstagabende am Samowar.

       Montag, 29. Dezember

      Vater ist in Pension gegangen. Langeweile kennt er nicht. Ganze Bücher übersetzt er aus dem Französischen, Englischen, Deutschen und Russischen ins Polnische. Und er schreibt selbst Gedichte. Aber seine Pension reicht nicht. Nicht für Essen, Kleidung, Miete …

      Ich bin die prächtige Marszałkowska-Straße entlanggegangen und habe Zettel verteilt: Junge absolvierte Gymnasiastin unterrichtet Französisch, Arithmetik, Naturwissenschaften …

       1885

       Montag, 2. Februar

      Seit einem Monat verdiene ich durch Unterrichten Geld.

      Laufe kreuz und quer durch die Stadt, von einem Schüler zum anderen. Schneegriesel im Gesicht, die Füße kalt, der Frost dringt durch die Handschuhe. Schaue sehnsüchtig der Pferdebahn hinterher … Sie sind faul und dumm, die Kinder der Reichen. Spielen lieber mit Puppen oder Soldaten, stehen stundenlang vor dem Spiegel, hecken dumme Streiche aus. Vielleicht nicht alle, aber meine Pappenheimer auf jeden Fall … Kein Interesse für die Wunder der Wissenschaft. Ihre Eltern lassen mich im Vorzimmer ewig warten, behandeln mich wie eine Untergebene, die ich ja auch wirklich bin, wie eine Abhängige, eine, die dankbar sein muss für jeden Rubel, den sie mir geben. Dabei musste ich sie gestern noch erinnern, mir meinen Lohn für den vergangenen Monat zu zahlen.

      Wie erniedrigend …

       Freitag, 13. Februar

      Abergläubig bin ich nicht. Ich fürchte mich nicht vor Freitag dem 13. oder einer schwarzen Katze von rechts … Auch mein Glaube an Gott ist leider verloren gegangen.

      Habe mich einer Gruppe »Positivisten« angeschlossen, um meinem Vaterland Polen zu helfen. Bronislawa Piasecka ist mir Freundin und Lehrerin zugleich. Sie ist wahrlich nicht hübsch zu nennen, hager, dünnes kurzes Haar, aber mit ihrem warmen Blick und ihrer wohlklingenden Stimme, mit der sie treffend und ohne Pathos neue Gedanken äußert, wirkt sie sehr anziehend auf mich. Die Welt wird nur besser werden, wenn sich die Individuen verbessern, ist einer ihrer Leitsätze. Zusammen mit Bronia sind wir an Vorlesungen der »Fliegenden Universität« zugelassen und bilden uns weiter in Anatomie, Naturgeschichte und Soziologie. Heimlich muss das geschehen. Entdeckt man uns, droht Gefängnis. Ich habe mich von meinem langen Haar getrennt …

       Donnerstag, 5. März

      Bronislawa

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