"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel

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dazu. Von meiner Anstrengung, sie am Morgen aus dem Bett zu holen. Ich habe von der besseren Gesellschaft erzählt, die nur auf Klatsch und Tratsch aus ist. Die von Tolstoi noch nichts gehört hat und von Karl Marx erst recht nicht. Nichts von Positivismus und Kapital, und wenn ja, zucken sie zusammen, schauen sich ängstlich um, als ob ein Gespenst im Raum wäre. Aber über die neueste Mode sind sie genaustens informiert.

      Ich kleide mich sauber und »adrett«, gehe sonntags in die Kirche, was Vater sehr überraschte.

      Ich habe erzählt, dass Herr und Frau Z. freundlich zu mir sind und mich nicht von oben herab behandeln. Aber sie ahnen natürlich auch nicht, dass ich Frauen bewundere, die studieren und selbst ein Studium anstrebe. Wenn sie das wüssten, würden sie mich wahrscheinlich für den falschen Umgang für ihre große Tochter Bronka halten.

      Wie habe ich mich geirrt, als ich von einer ländlichen Idylle träumte. Der Schornstein der Zuckerfabrik in Szczuki speit dunkle Wolken in den Himmel, verschmutzt die Luft, genau wie die Abwasserbrühe das Wasser des kleinen Flusses vergiftet und ihm Schaumkronen aufsetzt.

      Ich habe Vater erzählt von den arbeitenden Menschen, die von Rüben und ihrem Zucker leben. Es reicht gerade für ärmliche Kleidung und karge Speisen. Ostern ist für sie kein üppiges Fest.

      Morgen werde ich meine Koffer packen, Samstag fährt der Zug zurück. Heimweh habe ich schon jetzt.

       Sonntag, 2. Mai

      Ein Gutes hat die Fabrik auch für mich: Es gibt eine Werksbibliothek, in der ich mir Zeitschriften und Bücher ausleihen kann. Mein Wissen ist so lückenhaft! Nun versuche ich es hier mit meinen Möglichkeiten zu erweitern und lerne selbstständig zu arbeiten. Vieles interessiert mich, aber Mathematik, Physik und Chemie begeistern mich am meisten. Heute kam wieder ein Brief von Vater. Er weiß fast auf alle meine wissenschaftlichen Fragen eine Antwort.

       Mittwoch, 2. Juni

      Habe meine »große Schülerin« Bronka für meinen Plan, die Dorfkinder zu unterrichten, begeistern können. Die meisten sind Analphabeten, nur wenige lernen in der Schule die russische Sprache. Wir wollen sie heimlich in unserer schönen polnischen Sprache unterrichten. Ich habe Bronka gewarnt: Wenn man uns verrät, sehen wir uns in Sibirien wieder …

      Das hat sie nicht abschrecken können. Nun werben wir versteckt und vorsichtig in den Hütten der Dorfbewohner. Ich habe bereits Hefte und Federhalter gekauft.

       Donnerstag, 15. Juli

      Kasimir, der älteste Sohn der Familie Z., ist in den Ferien nach Hause gekommen. Er ist so alt wie ich und studiert an der Naturwissenschaftlichen Universität in Warschau. Er macht mir ein wenig Angst. Wenn er mit seiner kleinen Schwester Andzia lacht und scherzt, schaut er immer zu mir. Selbst Bronka zieht mich auf. »Er ist verliebt in dich, merkst du das nicht?« Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.

       Samstag, 17. Juli

      Er hat einen Wiesenstrauß gepflückt und ist mit ihm in der Hand vor mir auf die Knie gefallen. Welch albernes Getue … Aber ich konnte nicht verhindern, dass ich rot wurde …

       Dienstag, 20. Juli

      Selbst in der Kirche richtet er es so ein, neben mir zu sitzen. Ich spüre seine Wärme, seinen vorsichtigen leichten Druck, und die Predigt rauscht ungehört an mir vorbei.

       Donnerstag, 22. Juli

      Gestern spielten wir Schach, und er ärgerte sich furchtbar, weil ich immer gewann. Dann nannte er mich Prinzessin. »Meine kleine Prinzessin.« Das »meine« ist eine ziemliche Anmaßung. Das habe ich ihm gesagt, aber er hat nur gelacht, die Schachfiguren umgeworfen und mein Gesicht in seine Hände genommen. Ich war wie versteinert. Gesehen hat es zum Glück wohl niemand.

       Mittwoch, 28. Juli

      Kasimir Zorawski, Sohn des Gutsverwalters in Szczuki

      Ich habe noch nie so lange in so dunkle Augen gesehen. Maria – wo bleibt deine Reserviertheit? Wie schafft er es nur, dass du nachts vor Sehnsucht nach ihm nicht schlafen kannst, dass du vor deinen Büchern sitzt und alles dreimal lesen musst, um zu verstehen, dass du unkonzentriert auch deine Aufgaben mit Andzia erledigst, dass du eine andere geworden bist und dass alles Wehren dagegen sinnlos ist? Wie soll das enden? Eine nicht lösbare Gleichung mit vielen Unbekannten …

      Die Tage, selbst die Nächte sind drückend heiß …

       Montag, 2. August

      Ich bin so unendlich glücklich. Vorgestern Nacht, die Kulisse wie in einem Kitschroman: Mondlicht, ein kleiner See, kein Lufthauch zu spüren, und er: Komm Maria, lass uns baden … Nicht weit vom Rand entfernt, eine tiefe Stelle, ich fühlte plötzlich keinen Grund mehr unter meinen Füßen, erinnerte mich erst wieder, als ich am Ufer lag, er mein Gesicht streichelte, mein Haar, und dann geschah es, was ich nicht in Worte fassen kann, worüber ich auch nie sprechen, auch nicht schreiben werde …

      Wie viel später, weiß ich nicht mehr, mein Zeitgefühl war mir abhanden gekommen, aber es geschah, als sich gerade eine Wolke vor den Mond schob und ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Mit einer einfachen Frage löste er die Gleichung mit den vielen Unbekannten. Und ich antwortete überglücklich: »Ja, ja, ja, Kasimir, mein Liebster, ich will dich heiraten!«

       Samstag, 14. August

      »Die Freude ist nicht ewig und mein Kummer unendlich!« Alles nur ein Märchen, aber mit einem bittren Ende. Nie wieder werde ich einem Mann trauen, wenn er von seinen Gefühlen zu mir spricht.

      Er ist zurück nach Warschau, ohne sich von mir zu verabschieden. Frau Z., seine Mutter, hat mich zu sich bestellt. Ich mag ihre Vorhaltungen nicht aufschreiben, es ist zu erniedrigend. Nur ein Satz: »Eine Gouvernante heiratet man nicht!«

      Ich ging wortlos. Meine Tränen sollte sie nicht sehen.

       Sonntag, 15. August

      Vergessen, wie leicht sagt sich das, und wie schwer ist es … Natürlich möchte ich meinen Rucksack packen und Szczuki auf Nimmerwiedersehen den Rücken kehren. Oder wenigstens Urlaub nehmen. Aber ich kann die Stelle nicht aufgeben. Bronia braucht die 20 Rubel jeden Monat, und auch die Bauernkinder verlasse ich nicht. Jetzt haben wir schon zehn Schüler und sie machen langsam Fortschritte.

      Mein Herz ist verkrustet, aber schlägt noch. Bronka, Kasimirs Schwester, meine Schülerin, ahnt und schaut mich mitleidig an. Kein Wort über mein Leid wird aus meinem Mund kommen. Geklagt oder gejammert wurde in unserer Familie nie.

       Freitag, 3. Dezember

      Achtzehn Schüler unterrichten wir jetzt jeden Mittwoch und Samstag, manchmal bis zu fünf Stunden. Mein Zimmer im ersten Stock hat einen separaten Eingang von der Treppe zum Hof. Die Kinder kommen unbemerkt, ohne jemanden zu belästigen. Ihr Lernwille ist beachtlich, nicht zu vergleichen mit dem von der kleinen Andzia. Ich warte auf diese Tage und die Kinder mit großer Freude.

       Sonntag, 5. Dezember

      

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