"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel

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Ich habe mich daran gewöhnt, um sechs Uhr aufzustehen, damit ich mehr arbeiten kann – aber ich bin nicht immer fähig dazu. Jetzt ist ein sehr netter alter Herr hier, Andzias Taufpate; auf Aufforderung von Frau Z. mußte ich ihn bitten, mich zu seiner Zerstreuung im Schach zu unterrichten. Auch muß ich den Vierten beim Kartenspiel abgeben, und das läßt mich nicht zu meinen Büchern kommen.

       Augenblicklich lese ich:

       1. Die Physik von Daniel; mit dem ersten Band bin ich fertig.

       2. Die Soziologie von Spencer, auf französisch.

       3. Das Lehrbuch der Anatomie und Physiologie von Paul Bers, auf russisch.

       Ich lese immer mehreres auf einmal: die fortlaufende Beschäftigung mit ein und demselben Gegenstand könnte mein schon stark überanstrengtes Gehirn ermüden. Wenn ich mich absolut unfähig fühle, mit Nutzen zu lesen, löse ich algebraische und trigonometrische Aufgaben; die vertragen kein Nachlassen der Aufmerksamkeit und bringen mich wieder ins rechte Fahrwasser.

       Die arme Bronia schrieb aus Paris, daß man ihr mit den Prüfungen Schwierigkeiten macht, daß sie viel arbeitet und sich gesundheitlich nicht sehr fest fühlt.

       … Meine Zukunftspläne? Ich habe keine, oder vielmehr sind sie so gewöhnlich, daß es nicht der Mühe wert ist, von ihnen zu reden. Mich durchschlagen, so gut es geht, und wenn es nicht mehr geht, dieser schnöden Welt Adieu sagen. Der Schaden wird gering sein, und beweinen wird man mich auch nicht länger als so viele andere. – So sehen jetzt meine Projekte aus. Manche Leute reden mir ein, daß ich noch die gewisse Krankheit durchmachen muß, die man Liebe nennt. Dafür habe ich aber gar keinen Platz in meinen Plänen. Wenn ich andere hatte, so sind sie nur in Rauch aufgegangen, ich habe sie begraben, eingesargt, versteckt und vergessen – denn Du weißt ja auch, daß die Mauern immer stärker sind als die Köpfe, die gegen sie anrennen …

       1887

       Mittwoch, 9. März

       An Józef

       … Es gibt nur eine Meinung darüber, daß das Praktizieren in einer Kleinstadt eine Fortsetzung der wissenschaftlichen Arbeiten und überhaupt der geistigen Fortbildung abschneidet. Du wirst Dich in irgendein Loch begraben und keine Karriere machen. Ohne Apotheke, ohne Spital, ohne Bibliothek bleibt man stecken, trotz der besten Vorsätze. Und wenn Dir das geschähe, mein Lieber, würde ich darunter ungeheuer leiden, denn da ich nun für mich jede Hoffnung verloren habe, etwas zu werden, konzentriert sich mein ganzes Streben auf Bronia und Dich. Ihr beide wenigstens müßt Euer Leben nach Eurer Begabung einrichten. Die Begabung, die ohne Zweifel in unserer Familie vorhanden ist, darf nicht verloren gehen und muß in einem von uns zum Durchbruch kommen. Je hoffnungsloser ich für mich bin, desto mehr erhoffe ich für Euch …

       Montag, 7. November

      Mein zwanzigster Geburtstag. Bronka stellte eine Torte mit zwanzig Kerzen auf den Tisch. Meine kleinen Schüler haben mir Bilder gemalt, mit Herzen, Vögeln und Sonnenstrahlen. Glückwünsche aus Paris, von Schwesterherz Bronia, kamen schon vorgestern an. Heute von Schwesterchen Hela, die ihre Trauer, weil kurz vor der Hochzeit zurückgewiesen, noch nicht überwunden hat. Aus demselben Grund, den auch ich erfahren musste. Was sind das für Menschen? In Vaters Brief überschatteten Sehnsucht und Verzweiflung die Freude, dass seine Mania bei guter Gesundheit zwanzig Jahre alt geworden ist.

      Ich habe gelacht und gesungen mit meinen Schülern und mich tausendmal bedankt und niemand wird gemerkt haben, dass ich mich dabei so elend und einsam wie noch nie gefühlt habe.

       Sonntag, 20. November

      Ich sitze am Tisch, es ist bald Mitternacht. Nicht jeder Tag im November ist grau und regnerisch. Obwohl ich diese Grauen liebe, stimmte mich der Sonnenschein heute optimistisch. Ich werde Vater schreiben, dass er keinen Grund zum Kummer haben muss. Seine Kinder werden ihren Weg gehen. Wir haben eine so gute Erziehung genossen. Wie er uns ohne Ma großgezogen hat, verdient Hochachtung und ewige Dankbarkeit. Ja, wir werden ihm alle zeigen, dass er sich nicht umsonst um uns so uneigennützig bemüht hat.

       Samstag, 26. November

      Meine Stimmungen sind sehr schwankend. Heute fühle ich mich wieder einsam und verlassen, und meine Zukunft erscheint mir grau und trostlos.

      Einzig der Gedanke an meine fleißigen Bauernkinder, die morgen wieder zum Unterricht erscheinen, lässt mich ein bisschen leichter atmen.

       Samstag, 10. Dezember

       An Henriette

       Meine Zukunftspläne sind überaus bescheiden: mein ganzer Traum ist, einen Winkel zu finden, wo ich mit meinem Vater wohnen kann. Der Arme entbehrt mich sehr, er vermißt meine Gegenwart im Hause und sehnt sich nach mir. Und ich würde mein halbes Leben dafür geben, wieder meine Unabhängigkeit und einen Unterschlupf zu haben.

       Sobald es also möglich ist – es wird ohnedies noch einige Zeit bis dahin vergehen –, werde ich Szczuki verlassen, nach Warschau kommen, mich um eine Stelle als Lehrerin in einem Pensionat bewerben und mit Privatstunden noch etwas dazu verdienen. Das sind alle meine Wünsche. Das Leben ist es nicht wert, daß man sich seinetwegen so sehr den Kopf zerbricht …

       1888

       Sonntag, 1. April

      April, April, der weiß nicht, was er will. Mitunter komme ich mir vor wie der April: wetterwendisch, mal himmelhoch jauchzend, dann zu Tode betrübt. Mal, das Leben ist es nicht wert, daß man sich seinetwegen so sehr den Kopf zerbricht …, dann wieder hört mein ungehorsamer Kopf nicht auf zu denken. Und ich wünsche mir einen Schalter, um das mit einem einfachen Klick abzustellen. »Eine Gouvernante heiratet man nicht.« Dieser Satz will nicht aus meinem Kopf. Nie hat man mich mehr gedemütigt!

       Donnerstag, 25. Oktober

      An Kazia (die ihr ihre Verlobung mitgeteilt hat) Nichts von allem, was Du mir anvertraust, kann mir jemals übertrieben oder lächerlich erscheinen. Muß Deiner Wahlschwester nicht alles, was Dich bewegt, zu Herzen gehen, als handelte es sich um sie selbst?

       Was mich betrifft, so bin ich sehr heiter – und oft genug verberge ich hinter einem Lachen meinen völligen Mangel an Heiterkeit. Das habe ich nämlich gelernt: Menschen, die alles so stark empfinden wie ich und nicht imstande sind, diese Veranlagung zu ändern, müssen sie wenigsten so gut als möglich verheimlichen. Glaubst Du aber, daß es damit schon getan ist, daß es etwas nützt?

       Nicht im mindesten! Meistens lasse ich mich von der Lebhaftigkeit meines Temperaments fortreißen, und dann – nun, dann sagt man Dinge, die einem leid tun, und auch das wieder mehr, als es nötig wäre.

      Ich schreibe ein wenig verbittert, Kazia. Was soll man tun? Du sagst, daß Du die glücklichste Woche Deines Daseins erlebt hast, und ich, ich habe hier Wochen durchstehen müssen, wie Du sie nie kennen lernen wirst. Es waren sehr bittere Tage, und das einzige, was mir die Erinnerung an sie erträglich macht, ist, daß ich trotz allem aus ihnen anständig und mit erhobenen

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