"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу "Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht" - Christina Seidel страница 12

Скачать книгу

28. Oktober

      Vater hat wieder eine Arbeit. Er leitet jetzt eine landwirtschaftliche Erziehungsanstalt in Studzieniec ganz nah bei Warschau. Er scheint nicht glücklich zu sein, aber sein Einkommen ist hoch und sein erstes Monatsgehalt hat er sofort Bronia in Paris zukommen lassen. Vierzig Rubel will er ihr künftig monatlich schicken. Aber meine liebste Schwester hat ihn gebeten, acht Rubel davon für mich zur Seite zu legen und sie will von mir kein Geld mehr haben. Von nun an kann ich für mich selbst sparen. Ich fange wieder an zu hoffen, an zu träumen. Von mir als Wissenschaftlerin. Nein, Ärztin will ich nicht werden. Mein Verstand liebt die Naturwissenschaften: Physik und Chemie. Gestern Nacht habe ich »richtig« geträumt. Ich war eine Chemikerin und arbeitete in einem Labor in Paris.

      Wie war ich enttäuscht, als ich aufwachte.

       Sonntag, 25. November

       An Henriette

       Glaube nicht, daß Deine Erzählungen mich langweilen: im Gegenteil, es ist für mich eine wirkliche Befriedigung, zu hören, daß es noch Gegenden gibt, wo die Leute sich regen und sogar: denken! Du lebst im Zentrum der Bewegung, mein Leben aber gleicht auf merkwürdige Weise dem der Weichtiere in dem trüben Wasser unseres Flusses. Glücklicherweise kann diese Lethargie nicht mehr lange dauern.

      Wirst Du, wenn Du mich wieder siehst, finden, daß die Jahre unter den Menschen mir gut oder schlecht getan haben? Das frage ich mich selbst. Alle Leute sagen, daß ich mich während der Zeit in Szczuki sehr verändert habe, körperlich und geistig. Das wundert mich nicht. Ich war kaum achtzehn Jahre alt, als ich hierher kam und was habe ich nicht durchgemacht! … Oberstes Prinzip: sich nicht unterkriegen lassen, nicht von den Menschen und nicht von den Ereignissen …

       1889

       Sonntag, 3. März

      Zu Ende! Dreieinhalb lange Jahre in Szczuki sind vorbei. Meine Zeit hier ist um und das Wichtigste: Die Kinder haben die Prüfungen bestanden. Ich muss mich nicht schämen oder verstecken, ich habe meine Arbeit gut gemacht. Do widzenia Stoppelfelder und Rübenacker … Do widzenia meine fleißigen Bauernkinder!

      Do widzenia Bronka und Andzia. Sie sind auf der glücklichen Seite des Lebens. Sollen sie was draus machen!

      Eine wohlhabende Familie Fuchs sucht eine Gouvernante. Also pack die Sachen Maria, für die baltische Küste …

       Sonntag, 5. Mai

      Zum einen lohnt es nicht, viele Worte über meine neue Arbeitsstelle zu verlieren, zum anderen fehlen mir auch die Lust und Kraft dazu. Ich bin von früh bis abends eingebunden. Wenn ich mich nicht um die Erziehung der zwei Kinder (acht und dreizehn Jahre alt) kümmern muss, wartet Frau Fuchs senior bereits, dass ich mit ihr Tee trinke, ihr vorlese, sie ausfahre. Sie ist stark gehbehindert und ich bin sozusagen ihre Zofe. Ich kann das nur ertragen mit der Hoffnung, dass dieses Leben hier endlich ist und auch ich irgendwann meinem Intellekt entsprechend studieren und arbeiten kann.

       1890

       Samstag, 8. März

      Eine wunderbare Überraschung! Schwester Bronia hat sich verlobt. Mit einem zehn Jahre älteren Arzt. Kazimierz Dłuski heißt er. Seine Eltern haben auch im Januaraufstand mitgekämpft und er selbst musste Polen verlassen, weil er eine Schmähschrift verfasst hatte. Im August soll in Krakau die Hochzeit gefeiert werden. Käme er nach Warschau, müsste er damit rechnen, verhaftet zu werden. Bronia muss noch wenige Prüfungen ablegen, dann ist sie in Paris mit dem Medizinstudium fertig. Sie drängt, ich soll nachkommen. Doch mein Erspartes reicht noch nicht zum Einschreiben an der Sorbonne. Auch bin ich unentschlossen wegen meiner Verpflichtungen für Vater …

      Liebe wird für mich ewig ein Fremdwort bleiben … Eine Gouvernante heiratet man nicht!

       Mittwoch, 12. März

       Liebe Bronia,

       ich war dumm, ich bin dumm, ich werde dumm sein, solange ich lebe, oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Glück hatte ich nie, habe ich nicht und werde ich auch nie haben. Ich habe von Paris wie von der Erlösung geträumt, aber seit langem schon habe ich die Hoffnung aufgegeben, je hinzukommen. Und jetzt, wo sich mir die Möglichkeit bietet, weiß ich nichts mit ihr anzufangen … Ich fürchte mich, mit Vater davon zu sprechen; ich glaube, daß unser Plan, zusammen zu wohnen, ein Herzenswunsch ist, von dem er nicht lassen möchte; und ich will ihm ein wenig Glück in seinem Alter geben. Andrerseits bricht mir das Herz, wenn ich an meine verpfuschten Begabungen denke, die doch zu etwas gut sein sollten …

       Du aber, Bronia, nimm mit deiner ganzen Kraft die Interessen Józefs in die Hand – ich bitte dich darum … er muß unbedingt in Warschau bleiben, hier studieren und praktizieren … Wenn er in die Provinz geht, ist er verloren!

      Maria Skłodowska 1890

      … Mein Herz ist so verfinstert, so traurig, daß es, das fühle ich, unrecht von mir ist, mit dir von allem dem zu reden und dein Glück zu trüben. Du bist die einzige von uns allen, die hat, was man Glück nennt. Verzeihe mir, aber sieh, ich habe unter so vielem zu leiden, daß es mir schwer fällt, diesen Brief heiter abzuschließen …

       Dienstag, 20. Mai

      Bronia drängt und drängt und schreibt in jedem Brief, dass ich kommen soll. Aber auch sie hat nicht das nötige Geld, für eine Fahrkarte von Warschau nach Paris.

       Montag, 2. Juni

      Nun ist es beschlossen. Ende September werde ich meine Gouvernantenstelle bei Frau Fuchs beenden und dann noch ein Jahr bei Vater in Warschau bleiben. Er hat die Stelle in der Erziehungsanstalt aufgegeben, verdient aber durch Privatstunden dazu. Ich werde die Hochzeit meines Bruders mit vorbereiten und für Hela eine Anstellung suchen. Bronislawa Piasecka wird mich an die »Fliegende Universität« mitnehmen und endlich werden wieder Menschen um mich sein, die ähnliche Interessen und Ziele haben.

       Montag, 10. November

      Wieder in Warschau! Sie haben mich alle so liebevoll und herzlich empfangen und mein Herz krustet langsam auf. Zum Geburtstag hat mir mein Cousin Józef, ehemaliger Assistent von Dmitri Mendelejew, ein unglaubliches Überraschungsgeschenk gemacht. Er ist Leiter des Museums für Industrie und Landwirtschaft. Zwar kann man hier alte landwirtschaftliche Geräte, industrielle Technologien »studieren«, aber die russischen Behörden wissen nicht, dass ihr Museum Teil der »Fliegenden Universität« ist und sogar ein Laboratorium besitzt. Abends oder am Wochenende darf ich dort experimentieren! Traurig, dass alles geheim bleiben muss. Trotzdem schleiche ich nicht wie eine Verbrecherin nachts durch den Nebel der Stadt.

       1891

       Montag, 5. Januar

      Ich bin ich noch eine Anfängerin im Labor. Wie messe ich den Schmelzpunkt, worin ist eine Verbindung lösbar, wie kann ich sie wieder auskristallisieren und von Verunreinigungen trennen? Es gibt so viel zu lernen. Wie geht man mit dem Bunsenbrenner um, wie funktioniert die Lötrohrprobe? Vieles muss ich

Скачать книгу