Andere Häfen. Christopher Ecker

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Andere Häfen - Christopher Ecker страница 8

Andere Häfen - Christopher Ecker

Скачать книгу

der den Knaben geängstigt hatte. Und dennoch klappte er den hölzernen Deckel der Luke hoch und sah aus großer Höhe, als flöge er, hinunter auf das spitze Dach des Doms. Wind blies ihm ins Haar. Vögel, deren Namen er damals noch nicht kannte, flogen kreischend vorbei, und als er den Kopf in den Keller zurückzog, wo es nach Mörtel und Mäusedreck roch, hörte er seinen Vater sagen: „Das wirst du nie begreifen.“ Die Erinnerung nahm ihm den Atem und einige Empfindliche aus der Reisegruppe tauschten Blicke, doch er hob tapfer die Antenne des Zeigestocks und sagte: „Hier sehen Sie die Anbetung der Heiligen Drei Könige …“ Von nun an verging kein Tag, an dem er nicht an die Luke dachte. Manchmal kam es ihm vor, als wäre sein ganzes Leben zum Denken an die Luke im Keller des Doms geronnen, ja als wäre sein ganzes Dasein die Luke selbst. Und so vergingen seine letzten beiden Jahre.

      WIR WAREN ZUM ABENDESSEN EINGELADEN

      Nichts hat einen Anfang. Nichts hat ein Ende. Und doch muss ich diese Geschichte irgendwann beginnen lassen. Vergessen Sie bitte nie, dass der Anfang willkürlich gewählt ist. Das, was in Geschichten erzählt wird – auch das ist etwas, das Sie nicht vergessen sollten! –, muss nicht wahr sein, könnte aber wahr sein oder es könnte zwar erfunden sein, aber auf eine verborgene Wahrheit hinweisen, die nicht ausgesprochen werden kann oder darf. Wir waren zum Abendessen eingeladen. Doch wir kamen zu spät und einige Gäste waren bereits ausgezogen. Eigentlich waren sie angezogen, doch uns kam es vor, als wären sie ausgezogen. Wir waren nicht zum Abendessen eingeladen. Die Tischplatte war aus flaschengrün eingefärbtem Glas und über den bloßen Beinen und Füßen der Nackten standen Schalen und Gläser mit Rotwein. Und als du die Rispe Johannisbeeren aus einer der Schalen nahmst, sah ich durch dich hindurch, sah durch dich und die flaschengrüne Tischplatte und die ganzen Gäste hindurch und sah, als blickte ich durch ein sich öffnendes Fenster, den Lkw, der sich schlaftrunken zur Seite neigte und auf die Gegenfahrbahn schlug, um Funken sprühend über den nassen Asphalt auf uns zuzurutschen. Wir waren zum Abendessen eingeladen. Ich wünschte, wir hätten abgesagt. „Wir können leider nicht kommen“, hätten wir lügen sollen. „Wir haben einen wichtigen Termin, der nicht zu verschieben ist.“ Und noch während wir das sagen, wird alles durchsichtig und flaschengrün. Manchmal wäre es schön, wenn etwas einen Anfang hätte. Wenn etwas einen Anfang hätte, das kein Ende hat. Geschichten müssen nicht wahr sein, aber manchmal sind sie es und ihr Ende ist es auch. Letztlich ist jede Geschichte, die man erzählt, dieselbe Geschichte (ein alter Mann erinnert sich, als Kind im Keller eines Doms eine Luke gesehen zu haben), die Kunst ist es jedoch, jede Geschichte anders als die vorherige aussehen zu lassen. Wir waren zum Abendessen eingeladen. Es war ein langweiliger Abend. „Da gehen wir nie mehr hin!“, sagtest du auf der Rückfahrt im Auto, die Füße auf dem Sitz, die Knie umschlungen mit deinen dünnen, bloßen, blau geäderten Armen. Es hatte zu regnen begonnen. Und hier lasse ich die Geschichte enden.

      WIESO ICH ÜBERLEBTE

      Am Abend vor der Schlacht saßen wir unter einem Baldachin vor dem Zelt des Generals und lauschten mehr oder weniger andächtig seinen Ausführungen. „Manchmal“, sagte er und genoss den vollen Klang seiner Stimme (er war vor dem Krieg Bühnenschauspieler gewesen), „lebt man wie ein Fahrradfahrer, der mit vor der Brust verschränkten Armen einen Hügel in eine malerische Senke hinabfährt.“ Er hob das Glas, hielt inne, dachte nach, den Blick nach innen gekehrt. „Das Wetter ist schön, der Wind, der die Haare des Radfahrers zaust, ist mild, ein Bach windet sich durch das Tal, Weiden, Ulmen, eine kleine Brücke überspannt das Flüsschen …“ Er leerte das Glas, setzte es ab, die Eiswürfel klirrten. Sofort trat aus dem Halbdunkel die Ordonanz und schenkte nach. „Aber an anderen Tagen“, fuhr der General nach einer Weile mit einem undeutbaren Lächeln fort, „lebt man wie ein ermatteter Schwimmer, den eine saugende Strömung aufs hohe Meer hinauszieht oder …“ Und hier konnte ich nicht mehr an mich halten und ergänzte in einem Anfall kühlen Übermuts: „… oder wie ein Soldat, der am Abend vor der Schlacht unter einem Baldachin vor dem Zelt des Generals sitzt und mehr oder weniger andächtig seinen Ausführungen lauscht.“

      DIE DRITTE KATZE

      Schon wenn du Sätze aneinanderfügst, beginnst du zu lügen. Denn es gibt keine Zusammenhänge. Letztendlich dürftest du nicht einmal Wörter benutzen. Noch nicht einmal grunzen dürftest du, um etwas auszudrücken, was in Wahrheit niemals ausdrückbar ist. Stell dir einen Spiegel vor, der nur Falsches zeigt. Und stell dir nun das Meer vor! Das Meer, das nicht denkt und wogt und die Wellen rollen an den Strand, rollen wieder und wieder heran und schleifen Steine und Muscheln glatt und sie schleifen und schleifen – und wieder siehst du Zusammenhänge, aber das sollst du doch nicht! Stell dir nun dich selbst als dich selbst vor … oder als das Ich selbst … oder als das Selbst selbst … verstehst du, was ich meine? Es ist, als würde man an einem Sonntag zur Mittagszeit durch eine Kleinstadt spazieren und überall röche es nach Braten. Oder als würde dich Vivien besuchen. Und du legst deinen Kopf an ihren Busen, im Haus deiner Eltern, und dabei weißt du genau, dass du träumst, weil du Vivien erst kennen gelernt hast, als du längst zu Hause ausgezogen warst. Aber dennoch ziehen dich Viviens Arme an ihre weiche, kalte Brust, es ist wie ein Traum, den ein Fiebernder träumt, der nie du war. Irgendwo klappert Besteck auf Porzellan, als ob das, was gegessen werden muss, schwer zu essen wäre. Was ist schwer zu essen? Zäher Braten? Glitschiges? Drei Katzen suchen dich heim. Die erste heißt „Angst“, die zweite heißt „Zweifel“, doch die dritte ist einfach bloß eine Katze. Wer kann weiterleben, wenn er weiß, dass diese dritte Katze die fürchterlichste von den dreien ist? Wer kann weitertrinken, wenn Vivien stöhnt?

      RÜCKKEHR ZUR ERDE

      Ein Forschungsschiff kehrt von einer Expedition zurück. Es gibt nur einen einzigen Überlebenden, den, sagen wir mal, Ersten Offizier. Er berichtet, die übrige Besatzung sei einem Außerirdischen zum Opfer gefallen, einem Gestaltwandler, den er selbst schließlich nach einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd durch alle Ebenen des Schiffs an der Hauptschleuse getötet habe. Allmählich stellt sich jedoch heraus, dass er selbst dieser Außerirdische ist, den getötet zu haben er vorgibt. Man könnte diese Geschichte anders erzählen. Der Erste Offizier wird im Kälteschlaf wahnsinnig und glaubt nun, der Gestaltwandler zu sein, den er aus der Schleuse ins All gestoßen hat. Oder er findet bei den Verhören auf der Erde heraus, dass seine Geschichte nicht stimmen kann und er nicht er selbst ist. Oder der Gestaltwandler, der als Erster Offizier zur Erde kam, erkennt, wirklich der Erste Offizier zu sein, der offenbar im Kälteschlaf wahnsinnig wurde oder noch immer im Kälteschlaf liegt und die erfolgreiche Rückkehr zur Erde lediglich vom Bordcomputer vorgegaukelt bekommt. Oder er stellt fest, dass die ganze Mannschaft zur Erde zurückgekehrt ist, wobei hierbei zu überlegen wäre, ob es sich wirklich um die Besatzung oder um eine Kohorte Gestaltwandler handelt. Eleganter wäre es, wenn der Erste Offizier bei den Verhören ahnen würde, dass etwas Grundsätzliches nicht stimmt, nie und nimmer stimmen kann. Und nach und nach ahnt auch der Leser, dass es in der Geschichte gar nicht um zukünftige Ereignisse geht, sondern um jemanden, der in einem Mietshaus wahnsinnig wird und seine Mitbewohner für die Mannschaft eines Forschungsschiffs hält, auf der ein Gestaltwandler sein Unwesen treibt, der – ja, das ist es! – möglicherweise er selbst ist. Oder – noch besser! – ein Schriftsteller, der des Geschichtenerzählens müde ist, verstrickt sich beim Schreiben heillos in den Möglichkeiten, die sich unerwartet vor ihm auftun wie Falltüren, so dass er gar keine Zeit zu begreifen hat, dass ein Gestaltwandler die Mannschaft dezimiert, den er sich ausgedacht hat.

      SÜDWÄRTS

      Nein, nicht schlecht geschrieben, sondern schlecht gelesen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Am schlimmsten ist wohl, dass wichtige Erlebnisse fahrlässig überflogen werden. Sie kennen doch sicherlich dieses blendende Gleißen, wenn umgeblättert wird, wenn zu rasch umgeblättert wird, und man kaum noch nachkommt, Sinn

Скачать книгу