Andere Häfen. Christopher Ecker
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„Schau’n Sie aus dem Esszimmerfenster!“, sagte die Frau.
Draußen, auf der anderen Straßenseite, unter einer Laterne, stand jemand. Ich setzte die Brille auf, die vor meiner Brust baumelte. Unten auf dem Bürgersteig stand eine ältere Frau. Eine Frau in meinem Alter. Sie sah zu mir hoch. Sah hoch zu einem dicken, erschrockenen Nagetier, das am erleuchteten Fenster stand. In der einen Hand hielt sie ein Mobiltelefon, in der anderen ein großes Küchenmesser. Ich vollführte eine beschwichtigende Geste. Doch schon legte die Frau die Klinge an ihre Kehle und zog sie mit einer raschen, fast triumphierenden Bewegung zur Seite. Ich hörte, wie ihr Handy aufs Pflaster schlug, dann unterbrach ich die Verbindung, als ob das zu diesem Zeitpunkt noch Sinn gehabt hätte. Mit einer Behutsamkeit, als würde ich ein Ei in kochendes Wasser senken, legte ich den Hörer hinter mir auf die Anrichte, nahm die Brille ab und presste die Stirn an das Glas der Fensterscheibe.
Oft vergisst man, wie angenehm kühl Glas sein kann.
DAS MUSEUM ZU KNOSSOS
Er hatte die Geschichte nie niedergeschrieben. Oh, wie gut hätte sie in den Band Der Garten der Pfade, die sich verzweigen gepasst! Diese Geschichte nicht niederzuschreiben, war für ihn, wie eine Wanderung zu einem reizvollen Ort so lange aufzuschieben, bis man auf einmal feststellen muss, dass es diesen Ort seit Ewigkeiten nicht mehr gibt. Trotzdem kam es ihm vor, als hätte er die Geschichte irgendwann einmal geschrieben, in einem Traum, einem anderen Leben, als ein anderer, der doch er selbst war. Motivisch hätte sie sich nahtlos und nicht ohne Eleganz zwischen Die Lotterie in Babylon (nichts als Zufall gestaltet unser Dasein) und Die Bibliothek von Babel (die Welt ist eine Bibliothek) eingefügt. Es ist hier leider nicht der Ort, über die Gründe zu spekulieren, weshalb er nie Das Museum zu Knossos schrieb, einen im sachlichen Ton gehaltenen Bericht über jenes riesige Museum, von dem schon der Bildhauer Apollodoros in einem Fragment berichtet. Das Museum, erfährt man dort, „stellte Verschiedenes mit dem Anspruch der Vollständigkeit aus“. Offenbar kennzeichneten Tontäfelchen die Exponate. Eines Tages jedoch beschloss ein Fürst oder eine Gruppe von Fürsten, die erklärenden Tontäfelchen zu entfernen, damit „das Staunen ohne Grenzen“ sei. Von nun an war für die Besucher nicht mehr ersichtlich, wie die Künstler hießen, die für die Ausstellungsstücke verantwortlich zeichneten. Und auch das, was die Kunstwerke darstellten, befand sich von nun an im Bereich der Mutmaßung. Dennoch erfreute sich das Museum eines großen Zustroms von Besuchern, die zum Teil von weither angereist kamen. So erwähnt Apollodoros beispielsweise einen König mit Haut wie Lavagestein oder einen Krieger mit einem Bart, der „als lodernde Flamme“ vom Kinn auf den Brustpanzer hing, „ohne das Metall zu schmelzen“. Wie es zu der zweiten großen Veränderung des Museums kam, ist hingegen ungewiss. Jedenfalls tauchten plötzlich zahlreiche neue Ausstellungsstücke auf, über die niemand zu sagen vermochte, ob sie der Fürst oder ein geheimes Konsortium angekauft oder ob sie einige der Wärter absichtlich oder unabsichtlich platziert hatten. Der Gang durch das Museum war, so Apollodoros, „wie vor der Sphinx zu stehen und sie reden zu hören“, womit er bildhaft ausdrückt, dass es für den Besucher nicht mehr klar begreiflich war, ob er überhaupt ein Exponat bewunderte, wenn er staunend vor etwas innehielt. Des ungeachtet erfreute sich das Museum zu Knossos auch weiterhin größter Beliebtheit. Wir wissen von Aristoteles, dass er sich erst nach einer Reise nach Kreta reif dazu fühlte, seine Gedanken vor Publikum zu äußern. Doch die Geschichte ist hiermit noch nicht zu Ende. Ob die Wärter mit ihren Familien in die Räume des Museums einzogen und dort offene Feuer entfachten, um die sie allabendlich saßen und sangen, ist ungewiss. Ungewiss ist auch, ob das Konsortium eines Tages tatsächlich beschloss, die Mauern einzureißen. Vermutlich war es eher so, wie es bei Raimundus Lullus heißt: Die Mauern des Museums stürzten ein, die Räume wurden endlos. Was war die Folge? Der Besucher des Museums konnte seitdem nie sicher sein, ob er sich noch im Museum befand und, weitaus bedeutender, ob das, vor dem er andächtig staunend verharrte, ein Exponat war oder „etwas anderes“ (Robert Louis Stevenson). Und Reiche vergingen, Paläste wurden zu Trümmern, zu Staub, den der Wind davontrieb, dann vergessen, aber das Museum blieb bestehen. Dachte er als alter Mann an die nie aufgeschriebene Geschichte, sah er stets den letzten Satz, sah ihn so deutlich vor Augen, als hätte er ihn seiner Sekretärin diktiert: An jenem Abend im Jahr 1939 stieg ich aus der Straßenbahn, flanierte in der Müßigkeit des Ortsfremden durch die Stadt und blieb sinnend vor etwas stehen, von dem ich nicht wusste, ob es ein Mülleimer oder eine Zierurne oder etwas anderes war.
MAGST DU MICH?
Die Wahl zum Präsidenten der Insel veränderte meinen Tagesablauf in einigen wenigen, entscheidenden Punkten. Kostümierte Lakaien weckten mich um 6.30 Uhr, wuschen mich mit in warme Kokosmilch getauchten Schwämmen, applaudierten bei der Verrichtung des Morgenstuhls (6.45 Uhr), parfümierten mich, kleideten mich an und reichten mir um 6.49 Uhr die Maske, hinter der ich mich ab 7.15 Uhr allmählich wohlzufühlen begann. Nach einem kleinen Frühstück am Schreibtisch brachte man mich in der Sänfte zum Richtplatz. Richten bis 10.30 Uhr. Kopulation. Regierungsgeschäfte am Schreibtisch. Reichhaltiges Mittagessen mit anschließendem Stuhlgang um 12.15. Danach lange Gespräche mit der Maske bis zum Sonnenuntergang.
„Bist du glücklich?“
„Ja“, sagte ich.
„Magst du mich?“, fragte die Maske.
„Natürlich“, sagte ich – aber was hätte ich denn anderes sagen sollen? Ich war doch Präsident der Insel! Abends trennten sich gegen 21.45 im Sommer und 22.45 Uhr im Winter unsere Wege. Ich las die Klassiker oder dilettierte in allegorischer Dichtung, und die Maske begann ihren Streifzug durch die übel beleumundeten Viertel der Hauptstadt, um in Kontakt zu meinen Untertanen zu bleiben.
Um Punkt 24 Uhr ging ich zu Bett.
DAS AUGE DER SPHINX
„Was sind wir?“, fragte er mit diesem überlegenen Lächeln, das seine Reden begleitete, sobald er sicher war, nicht mehr verstanden zu werden. Nichtsdestotrotz sahen wir ihn erwartungsvoll an, hörten wir ihn doch nach wie vor gerne sprechen und schätzten ihn für all das, was er glaubte, nicht zu sein – und dennoch für uns war. „Was sind wir denn anderes“, fuhr er lächelnd fort, „anderes“, wiederholte er, „als eine Sammlung von Eindrücken, ein Album voller Collagen, die man staunend betrachtet: Das weiche Polster, auf dem ich sitze. Das Abteil, aus dessen geöffnetem Fenster ich hinausschaue. Die Dackel auf dem Bahnsteig – oder sind das da draußen Ratten? Der Mann mit dem Bowler und dem Vogelgesicht. Die Silhouette des Mont-Saint-Michel am Horizont. Die bloßen Beine der Schlafenden, unter deren zu kurzen Rock man, wie ihr sicher selbst schon bemerkt habt, sehen kann. Meine Schuhe auf dem schraffierten Boden.“ – Wir warteten geduldig, dass er weitersprach, doch anstatt die Lektion fortzuführen, hob er die rechte Hand und spreizte die Finger. Dann ballte er die Hand zeitlupenlangsam zur Faust und schüttelte sie, als wollte er ein gefangenes Insekt benommen und fluchtunfähig machen. Erst dann entließ er uns mit einem Kopfnicken. Es war, wussten wir, höchste Zeit, ins Bett zu gehen und darauf zu warten, dass der Schlaf Seite um Seite des Albums umblätterte, dessen Bilder so stark mit Bedeutung aufgeladen waren, dass jedes Blatt aus sich selbst heraus zu leuchten schien.
DIE ERSTE GESCHICHTE
Am zweiten Tag auf dem Dach stießen wir auf einen anderen Trupp, eine Gruppe zerlumpter Frauen und Kinder, die im Schatten eines