Andere Häfen. Christopher Ecker

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Andere Häfen - Christopher Ecker

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mir drängten sich die Kinder zusammen wie aus dem Nest gefallene Vögel.

      „Johann!“, rief ich. „Frag sie, wie lange sie schon unterwegs sind!“

      „Sie reden nicht mit mir“, rief Johann über die Schulter. Er hatte uns den Rücken zugekehrt, die Fremden sahen ihn ausdruckslos an und streckten ihm die Handflächen entgegen. Nach einer Weile spuckte Johann zur Seite aus und kehrte zu uns zurück.

      „Die Kinder sind müde“, klagte die Frau mit dem Kropf, die sich uns am späten Vormittag angeschlossen hatte.

      „Gehen wir weiter!“, sagte ich, hob die Standarte und hörte, wie der Trupp sich hinter mir murrend in Bewegung setzte.

      In den folgenden Tagen begegneten wir niemandem mehr auf unserem Marsch über die Dachschrägen und Betonflächen. Manchmal stießen unsere Vogeljäger auf die Reste von Lagerfeuern. Einmal fanden wir einen ausgeweideten Leichnam, der sich allerdings in einem so fortgeschrittenen Zustand der Verwesung befand, dass man nicht sagen konnte, ob die Verstümmelungen das Werk anderer Wanderer oder das der allgegenwärtigen Raben waren. Einige in unserem Trupp hatten bereits damals, was mich mit Sorge erfüllte, begonnen, die Raben um Hilfe zu bitten und ihnen, wenn sie glaubten, ich sähe es nicht, kleinere Opfergaben darzubringen. Als wir dem Trupp mit den zerlumpten Gestalten ein zweites und möglicherweise letztes Mal begegneten, hatten die Kinder, die uns begleiteten, ihrerseits Kinder bekommen. Johanns Ältester, der nach dessen Absturz das Amt des Spähers und Fährtenlesers innehatte, näherte sich den Gestalten, die im Sonnenlicht über das Ziegeldach verteilt lagen wie vom Himmel gefallene Seesterne, und streckte ihnen dabei abwehrend oder vielmehr beschwörend die Handflächen entgegen, wie es ihn die Raben gelehrt hatten.

      IM KELLER DES UHRMACHERS

      Es war einmal ein kleines Märchen, das lebte mit seinen Eltern in einem prächtigen Haus in der Hauptstadt des Reiches. Wie bei allen jungen Märchen war seine Handlung verworren: Es handelte, so viel war gewiss, von einer schönen Prinzessin, die sich in zahlreichen Prüfungen bewähren muss, um als Belohnung einen tapferen Prinzen zum Gemahl nehmen zu dürfen. Allerdings war die Art der einzelnen Prüfungen unklar (das Märchen war ja noch sehr klein) und der tapfere Prinz war nicht einmal aufgetreten. Aber die Zeit, wussten die Eltern des Märchens, würde alles zum Guten wenden, denn so war das immer schon gewesen. Das Haus, in dem das kleine Märchen lebte, hatte keine Fenster (so wohnen Märchen am liebsten, weil sie so ganz bei sich sind), doch aus einem Grund, den keiner kannte oder kennen wollte, gab es gleichwohl ein Zimmer mit einem Fenster zur Straße. Natürlich war die Tür dieses Zimmers stets verschlossen. Der Vater des Märchens, ein sehr strenges Märchen mit religiöser Moral, und seine Mutter, ein eher weitschweifiges Märchen voller unlogischer Wendungen und alberner Rätsel, liebten ihr Kind so sehr, dass sie ihm verboten hatten, den Raum mit dem Fenster zu betreten. Aber eines Tages, als die Eltern Mittagsschlaf hielten, nahm das kleine Märchen den Schlüssel vom Haken, schlich sich hinauf, öffnete die Tür und sah aus dem Fenster. Draußen kämpften zwei Bettelknaben um eine Rübe. Erst schubsten sie sich, dann schlug der eine den anderen nieder, entwand ihm die Rübe und schritt triumphierend von dannen, wobei er mit Genuss das Diebesgut verzehrte. Am nächsten Tag schlich sich das Märchen erneut hinauf, um aus dem Fenster zu schauen: Draußen fuhr gerade ein Karren vorbei, auf dem mehrere in Lumpen gekleidete Gestalten lagen. Sie schliefen nicht, begriff das Märchen plötzlich, sondern sie waren tot und der Schinder brachte sie zum Anger. „Was ist denn mit unserer Kleinen los?“, fragten sich die Eltern beim Tee. „Sie wirkt noch verworrener als sonst.“ Und Tag für Tag schlich sich das kleine Märchen von nun an zum Fenster und allmählich begann es sich zu verändern. Erst wuchs der schönen Prinzessin eine lange Nase, dann wurde sie dick und unförmig und schließlich war sie so hässlich, dass keiner sie mehr heiraten wollte. Nur ein entfernter Verwandter machte ihr noch den Hof, denn er war habgierig und wollte die Mitgift. Nach vielen weiteren Besuchen in dem verbotenen Raum mit dem Fenster zur Straße wurde die Prinzessin jähzornig und trat nach dem greisen Freier, der vor ihr kniete, und hatte nur Augen für den bösen Zauberer, der mit listigem Frettchenblick hinter dem Thron des Vaters hervorspähte. Und Tag für Tag schaute das kleine Märchen aus dem Fenster und schließlich wurde die Prinzessin sehr krank und lief lauthals Lieder singend, deren Texte allen Angst machten, durch das baufällige Schloss, in dem allerorten der Schimmel wucherte. Den Eltern blieb die Veränderung nicht unverborgen. „Was ist denn mit unserer Kleinen los?“, fragten sie sich beim Tee. „Findest du nicht auch, dass sie immer weniger wie ein echtes Märchen aussieht?“ Doch als die Eltern das kleine Märchen zur Rede stellen wollten, floh es mit dem Schlüssel die Treppe hinauf und sprang, als man an die Tür des verbotenen Raums klopfte, mit einem Satz hinunter auf die Straße, um nicht ausgeschimpft zu werden. Beim Sprung brach es sich beide Beine. Zum Glück kam ein betrunkener Uhrmacher vorbei, nahm es mit zu sich nach Hause, schiente notdürftig die Schenkel und kettete es im Keller an. Hier musste es Tag und Nacht schwerste Arbeiten verrichten: Kartoffeln schälen, Kessel polieren und noch vieles andere, worüber ich hier nicht sprechen möchte. Längst hatte das kleine Märchen keine erkennbare Handlung mehr. Eine fette, böse Frau (wohl die ehemalige schöne Prinzessin) prügelt sich mit einem fetten, bösen Mann (wohl der ehemalige tapfere Prinz) um eine gestohlene Rübe, ein dunkler Zauberer reitet auf seinem Mantel durch die kochende Zeit, ein Schloss oder eine Scheune stürzt ein, Blut strömt statt Wasser in den Flüssen des Reiches – und Kartoffeln wurden geschält und Kessel wurden poliert und noch vieles andere wurde getan, worüber ich hier nicht sprechen möchte. Fast jeden zweiten Abend war der Uhrmacher so betrunken, dass er zügellos auf das Märchen einprügelte und es wegen seiner schief und krumm zusammengewachsenen Beine verhöhnte, auf denen es sich kaum zum Wassereimer schleppen konnte. Und so vergingen die Jahre. Längst hatten die Eltern das Märchen vergessen – und noch schlimmer: Keiner wusste, dass es angekettet im Keller des Uhrmachers sein kärgliches Dasein fristete. Und weitere Jahre vergingen. Als der Uhrmacher sich endlich totgesoffen hatte, blieb das Märchen weiterhin angekettet im Keller und wurde von Tag zu Tag dünner und dünner. „Wäre ich doch bloß nicht aus dem Fenster gesprungen“, sagte es mit schwacher Stimme und rang die Hände, „dann wäre ich heute ein schönes Märchen und man würde mich erzählen, aber nun kennt mich keiner und es ist mein Schicksal, hier in diesem Kellerloch elendigst zu verhungern und zu verdursten. Ach, hätte ich doch nie aus dem Fenster geschaut!“ Kaum hatte es das gesagt, kam der Tod und breitete mit einem Lächeln seinen Mantel aus. Und so starb das Märchen. Aber hätte es jemand gelesen oder erzählt bekommen, es wäre ohnehin nicht mehr verstanden worden.

      VOM FAGARÖM

      Zu einem Zeitpunkt meines Lebens, als ich die Vergeblichkeit allen Strebens erkannt zu haben glaubte und mir redliche Mühe gab, mich mit diesem Gedanken anzufreunden, wodurch, ich verhehle es nicht, eine durchaus wohltuende Ruhe über mich kam, widerfuhr mir etwas, das, obwohl es die Vergeblichkeit, ja Nutzlosigkeit allen Strebens mehr als nur bestätigte, widerfuhr mir also etwas, das mich, meine Nachbarn und einige entfernte Bekannte, mit denen ich damals unregelmäßig zu korrespondieren pflegte, bis heute in eine dem Irrsinn nahe aufgepeitschte Unruhe stürzte. Dass die Wahrnehmung der Dinge durch unsere Sinne rein gar nichts mit den Dingen selbst zu tun hat, wie sie wirklich sind, ist eine Binsenweisheit, doch vergisst sie ein jeder allzu gerne, um ein betuliches, fast vergnügtes Leben in einer Dingwelt zu führen, die dadurch in eine Asservatenkammer verwandelt wird, inmitten der wir stehen und mal diesen, mal jenen Gegenstand aus den Regalen nehmen, um ihn prüfend zu begutachten. Das wusste ich und hatte mich, wie gesagt, damit (wie auch mit manchem anderen, über das zu sprechen hier nicht der rechte Ort ist) abgefunden, doch da stieß ich an einem sonnigen Märztag auf das Fagaröm und von nun an gab es einen Punkt in der Welt, der fest war, ein Ding, von dem ich guten Gewissens sagen konnte: Dieses Ding ist wirklich so, wie ich es mit meinen Sinnen wahrnehme. So und nicht anders! Ein Nebel, der entfernt einem vor vielen Jahren verstorbenen Studienfreund glich, offenbarte mir besagtes Objekt, zeigte es mir jedoch nur kurz und verschwand damit, nicht ohne einen erdigen Geruch nach Roter Bete im Hörsaal zurückzulassen, wo ich gerade über

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