Andere Häfen. Christopher Ecker

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Andere Häfen - Christopher Ecker

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auf Ladung zu warten, die sich aufgrund von unverständlichen und schikanösen Zollbestimmungen kaum fünfzig Meter entfernt in einer mit Backsteinen ausgemauerten Grube unter Zeltplane türmte, war nichts Neues für uns. Unangenehm war jedoch die Witterung. Alle paar Stunden schickte ich die Mannschaft mit Hacken hinaus aufs Eis, um zu verhindern, dass das Schiff festfror, und wenn sie rotgesichtig ihre tauben Hände am Ofen der Kombüse wärmten, verfluchten sie mich und ihr Los, aber sie hatten, wie sie wahrscheinlich ahnten, keine andere Wahl.

      Ich saß fast die ganze Zeit, in mehrere Mäntel und Decken gehüllt, in der Koje und fühlte mich wie ein auf den Rücken gefallener Taschenkrebs, was kein unvertrautes, wohl aber bei dieser Kälte ein schwer zu ertragendes Gefühl war. Bisweilen sah ich meine Eltern, die tadelnd in der Kajüte erschienen, um sie mit staksenden, vogelähnlichen Schritten zu durchmessen. Und einmal erschien ein alter Herr, in dem ich den Vater einer Frau vermutete, die ich vor Jahren verlassen hatte. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Knauf seines Stockes und sah mich mehr neugierig als mitleidig an.

      „Nun wartest du wieder“, sagte er, indem er seine Unterlippe wie ein Kind benagte, das erwartet, für das, was es sagt, getadelt zu werden.

      „Sie werden die Fracht bald freigeben“, sagte ich.

      „Es steht schlimm um dich, wenn du schon mit“, er gluckste, „Phantomen redest.“

      Ich zuckte die Achseln und wiederholte, da ich dem Vorwurf nichts entgegenzusetzen wusste: „Sie werden die Fracht bald freigeben.“

      Der Alte stieß mit dem Stock zornig auf die Planken und rief: „Niemals! Die Fracht, auf die du wartest, freizugeben, ist strengstens untersagt. Man lässt dich warten und nährt deine Hoffnung, aber selbst die Zöllnergehilfen wissen, dass dieses Schiff nie beladen werden darf. Und sie wissen das, weil kein Schiff im Hafen liegt. Deine Eltern versuchten sie vergeblich zu überzeugen, aber als sie schließlich von einem der leitenden Direktoren ans Fenster geführt wurden, mussten sogar sie zugeben, dass das Hafenbecken leer ist. Und wenn nicht einmal deine Verwandten dir helfen können, wer dann?“

      Ich zog mir die Decke über den Kopf und lauschte dem dumpfen, mit einem Mal beruhigenden Geräusch der Hacken auf dem vorrückenden Eis. Was ist wichtig?, überlegte ich, bevor sich der Schlaf über mein Bewusstsein stülpte wie ein Kohleneimer. Die Fracht, die ausblieb und möglicherweise nie eintraf, war es jedenfalls nicht.

      ZWEI KÄTZCHEN

      Kurz bevor ich zum ersten Mal straffällig wurde, brachte mein Pflegevater zwei Kätzchen mit nach Hause. Er kam in die Küche, wo wir gerade zu Abend aßen, und stellte einen zugebundenen Leinensack auf den Tisch: Darin bewegte sich etwas Lebendiges.

      „Was soll das?“, fragte meine Pflegemutter in dem Tonfall, den sie immer anschlug, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. „Nimm das dreckige Zeug vom Tisch! Wir essen zu Abend.“

      „Kätzchen“, erklärte mein Pflegevater, ohne sie anzusehen. „Ich hab’ den Jungs zwei kleine Kätzchen mitgebracht.“

      „Die brauchen keine Kätzchen! Bring sie dahin, wo du sie herhast!“

      Und so blieb der Sack ungeöffnet. Und so sahen wir nie die beiden kleinen Kätzchen. Wenige Minuten später kehrte mein Pflegevater zurück und hängte, ehe er sich zu uns an den Tisch setzte und sich ein Glas Wein einschenkte, den leeren Sack über die Lehne des freien Stuhls, auf dem bis vor wenigen Wochen Lina gesessen hatte. Wir aßen schweigend weiter. Mein Pflegevater hatte frische Kratzer auf beiden Handrücken. In der Nacht, als ich im Bett lag und meine Stiefbrüder schon schliefen, erfüllte mich plötzlich ein Gefühl, das ich anfangs nicht einordnen konnte. Aber kurz bevor ich einschlief, begriff ich, wie sehr es mich mit einer tiefen, düsteren Zufriedenheit erfüllte, dass die Kätzchen sich gewehrt hatten.

      KÜHLES GLAS

      Zu meinem Fünfzigsten erschien ein von verhaltenem Wohlwollen getragener Geburtstagsartikel in der hiesigen Lokalzeitung, etwa achtzig weitgehend kenntnisfreie Zeilen, die ein Porträtfoto verunstaltete, auf dem ich wie ein feister Hamster aussah. Am Tag danach rief sie zum ersten Mal an. Ich meldete mich, wie ich es seitdem nicht mehr tue, mit Vor- und Nachnamen, wartete eine Weile ab. Schließlich sagte eine Stimme, die ich einer jungen – und attraktiven – Frau zuordnete: „Ich wollte Ihre Stimme hören.“

      Ich versuchte, die Sache von der humoristischen Seite zu nehmen, und erwiderte lachend: „Zumindest das ist Ihnen ja jetzt gelungen!“

      „Was?“, fragte sie.

      „Was?“, fragte ich zurück.

      „Was“, sie schrie fast, „ist mir jetzt gelungen?“

      Mir wurde bewusst, dass ich die Situation weder beherrschte noch durchschaute. Ich legte die Hand flach auf die Rauputztapete, dachte nach. „Nun“, begann ich großväterlich (und fühlte mich dabei wie der fette Hamster auf dem Foto in der Zeitung), „Sie sagten mir doch eben, Sie hätten meine Stimme hören wollen. Und ich … äh … wies Sie sodann lediglich darauf hin, dass Sie sie jetzt hören.“

      Am anderen Ende der Leitung wurde leise geatmet. Dann nach einem Seufzer fragte die Frau mit leicht schneidendem Unterton: „Waren Sie 1994 mal mit einer Frau aus Trier befreundet? Bitte antworten Sie ehrlich!“

      Ich unterbrach die Verbindung. 1994, nach einer Vernissage, war es, wie soll ich es ausdrücken, ohne den fürchterlichen Begriff „One-Night-Stand“ zu verwenden … also nach dieser Vernissage in Trier hatte ich die Nacht mit … was, fragte ich mich, wenn es sich bei der Anruferin um meine zwanzigjährige Tochter handelte, von deren Existenz ich bisher weder geahnt noch gewusst hatte?

      Zwei Tage später rief sie wieder an. Und wieder eröffnete sie das Gespräch mit der Feststellung, sie habe meine Stimme hören wollen.

      „Woher haben Sie diese Nummer?“, fragte ich.

      „1994“, sagte sie. „Nach der Eröffnung Ihrer Ausstellung in Trier. Die Ausstellung, in der Sie zum ersten Mal Ihre Arbeiten aus Gips …“

      Ich unterbrach die Verbindung, ging ins Wohnzimmer, schenkte mir einen Likör ein, dann einen weiteren und machte mich, nach einem Kontrollblick in beide Kinderzimmer, wieder an die Arbeit. Längst arbeitete ich nicht mehr mit Gips. Das war ein Irrweg! Sowieso ist alles Dreidimensionale ein Irrweg, weil kein Künstler versuchen sollte, die Natur zu übertreffen. Seit vielen Jahren zeichnete ich nur noch und auch das erschien mir inzwischen zu kompliziert. Mir schwebte eine Kunst vor, die sich in ihrer völligen Schlichtheit der Natur Untertan macht und sie so durch, nennen wir es mal, Bescheidenheit, übertrifft. Damals in Trier … ich wünschte, ich könnte alles, was damals passiert ist, ungeschehen machen!

      Die folgenden Tage verliefen ohne Belästigung. Fast erleichtert fiel ich in den üblichen dumpf-betäubenden Trott zwischen Atelier und Kinderbelustigung zurück, aber am Samstagabend, als ich mich längst in Sicherheit wiegte, klingelte zu einer Unzeit das Telefon. Ich wusste sofort, dass sie es war.

      „1994“, sagte sie.

      „Was wollen Sie von mir?“, fragte ich und beinahe hätte ich entschuldigend hinzugefügt: „Damals in Trier war ich sehr betrunken gewesen.“

      „1983“, sagte sie.

      Ich ließ den Hörer sinken, merkte, dass mein Mund offen stand, hob den Hörer langsam ans Ohr. „Was meinen Sie mit 1983?“

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