Andere Häfen. Christopher Ecker
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„Nichtstun“, sagte er, „ist die schlimmste Form der Rache.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte ich.
„Nichts zu tun, zeigt mehr als alle denkbaren Taten die Geringschätzung, die man für jemanden empfindet, der einen einst gequält oder erniedrigt hat.“
„Finden Sie?“
„Nichtstun sagt: Du bist es nicht wert, Opfer meiner Rache zu sein. Ich hasse und verachte dich so sehr, dass ich nichts tun werde.“
„Aber dennoch wünschen Sie, dass derjenige, an dem Sie sich rächen wollen, weiß, dass Sie sich nicht rächen, um ihn dadurch zu strafen.“
„Das ist richtig.“
„Sehen Sie den Denkfehler?“
„Wir befinden uns nicht in einem Seminar über Logik, mein Bester.“
„Da mögen Sie recht haben, aber ich finde, dass es ein gutes Gefühl ist, wenn die, an denen man sich rächen will, wissen, wer sich an ihnen rächt.“
So weit, so gut. Aber, und jetzt merkt fein auf, warum ich mich an Euch räche, wisst Ihr nicht, ahnt Ihr nicht und werdet es nie erfahren.
AUF GLÜHENDEN KOHLEN
Natürlich hatten es mir meine Eltern verboten. Natürlich machte ich es trotzdem. Jürgens Eltern hatten es ihm auch verboten, aber auch ihn scherte das nicht die Bohne: Wir waren beste Freunde, saßen in der Grundschule nebeneinander und konnten uns nichts Aufregenderes vorstellen, als die Schlangenhöhle zu erkunden. In Schwarzenacker, dem Dörfchen, wo wir beide wohnten, befand sich im Wald hinter dem Römermuseum ein verzweigtes, sich über mehrere Ebenen erstreckendes Höhlensystem – die Schlangenhöhle. Hier hatten bereits die Römer den rötlichen Buntsandstein gebrochen, dessen Staub allen Besuchern Schuhe und Kleider färbte, verräterisch färbte, denn die Zugänge waren aus Sicherheitsgründen zugemauert. Beim Spielen im Wald hatten wir jedoch ein Loch im Hang entdeckt, kaum größer als ein Dachsgang und doch ein Schlupfloch, das uns mageren Zweitklässlern Einlass in das labyrinthische System gewährte. Da gab es Tunnel, kapellenartige Räume, Teiche, da gab es Kriechgänge, in denen man sich flach auf den Bauch pressen musste, und Röhren gab es da, die noch schmaler waren und hinab in tiefere Etagen führten, wo die Luft nach faulen Eiern roch. Eines Samstags kam Jürgen, dessen Eltern sich nicht sonderlich um ihn kümmerten, nach der Schule zu mir nach Hause, aß mit uns zu Mittag und danach zog es uns nach draußen. „Hast du die Kerzen?“, fragte ich. – „Klar!“, sagte Jürgen. – „Hast du die Streichhölzer?“, fragte ich. – „Klar!“, sagte er, denn seine Mutter rauchte, und schnurstracks ging es in den Wald zum Schlupfloch. An diesem Tag waren wir mutiger als sonst und erkundeten einen Bereich der Höhle, wohin wir uns nie zuvor gewagt hatten. Hinter einem absteigenden Stollen, in dem mehrere Ballen aufgerollten Stacheldrahts lagen, führte eine enge Röhre steil in die Tiefe. Jürgen kroch voraus, ich folgte ihm, die Nase an seinen Schuhsohlen. Das Licht der Kerzen erhellte den roten Boden, die mit nassem Moos bewachsenen Wände und eine von Meißelschlägen schartige Decke, aus der Wurzelfäden hingen wie Indianerhaare. Plötzlich begann Jürgen zu keuchen. „Was’n los?“, fragte ich. – „Asthma!“, kam die gepresste Antwort. Und kurz darauf ergänzte er: „Ich steck fest!“ Sein Atem rasselte eine Weile blechern und nach einem heftigen Zucken der Füße fuhr er fort: „Ich krieg kaum Luft!“ – „Dann nimm halt dein Zeugs!“, sagte ich. – „Würd ich ja, aber das ist in meinem Ranzen.“ – „Scheißdreck!“, entfuhr es mir, denn der lag zu Hause auf meinem Bett. Rasch schmiedeten wir einen Plan: Ich musste nach Hause rennen, mit dem Inhalator zurückkommen, dann würde Jürgen sofort zwei Sprühstöße nehmen und käme danach sicherlich wieder frei. „Wenn ich wieder atmen kann, ist alles in Ordnung“, japste er. Also kroch ich rückwärts aus der Röhre, verließ die Höhle, klopfte den roten Sand von meinen Kleidern und rannte durch den Wald nach Hause. Dort angekommen, zog ich im Flur die Schuhe aus und wollte gerade in mein Zimmer schleichen, doch wir hatten Besuch. „Schau mal, wer da ist!“, sagte Vater und ich musste ins Wohnzimmer und Tante Almut und Onkel Heiner die Hand geben. Mutter stellte einen frischen Teller auf den Tisch und verkündete: „Tante Almut hat Erdbeerkuchen mitgebracht!“ Und da jeder wusste, wie sehr ich Tante Almuts Erdbeerkuchen mochte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu den Erwachsenen zu setzen und ein Stück Kuchen zu essen. „Bist du krank?“, fragte Tante Almut. „Normalerweise isst du doch mindestens zwei! Und wieso ohne Sahne?“ Und schon hatte ich das zweite Stück auf dem Teller, dann das dritte. „Lernst du auch fleißig?“, fragte Onkel Heiner, kaum dass ich das dritte Stück Erdbeerkuchen aufgegessen hatte, und fing damit an, mich über die Schule auszuhorchen. Ob das Fräulein streng sei. Ob es nette Mädchen in meiner Klasse gebe. Wie viel denn sieben mal neun machten und, er lachte verschwörerisch, ob ein Kamel ein oder zwei Höcker habe. Auf einmal stand Vater, der kurz den Raum verlassen hatte, in der Wohnzimmertür und sah mich streng an. „Du warst in der Höhle!“ – „Nein“, log ich, aber da hielt er meine Schuhe hoch, die rot vom Sand waren, und brüllte: „Ins Bett! Sofort ab ins Bett! Ohne Nachtessen!“ Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, denn rot waren die Schuhe, die er hielt, rot vom Sand der Schlangenhöhle. Also ging ich zu Bett. Erst weinte ich, dann las ich ein wenig. Irgendwann schlief ich ein. Am nächsten Tag war Sonntag und wir machten einen Ausflug in den Deutsch-Französischen Garten. Wir fuhren mit der Seilbahn. Wir fuhren Tretboot. Ich aß Spaghettieis und meine Eltern tranken Kaffee aus winzig kleinen Tassen. Abends schob ich Jürgens Ranzen unters Bett. Montags kam er nicht zur Schule und der Platz neben mir blieb frei. Natürlich wurden mir Fragen gestellt. An diesem Tag und an den Tagen danach, aber ich behauptete stets stur und steif, wir hätten im Wald „Cowboy und Indianer“ gespielt, Jürgen habe dann schlimme Probleme mit seinem Asthma gehabt und sei nach Hause gegangen. Einige Tage später vergrub ich seinen Ranzen an der Brombeerhecke bei den Bahngleisen. Ich war nie wieder in der Schlangenhöhle. Und heute? Heute trinke ich selbst Kaffee aus winzig kleinen Tassen, kenne keine Eisdiele, die noch Spaghettieis anbietet, und weiß mit Sicherheit nur dies: Einen besseren Erdbeerkuchen als den von Tante Almut habe ich nie wieder gegessen. Aber es war ja auch Sommer und die Erdbeeren waren frisch aus ihrem Garten.
DIE LETZTEN JAHRE
Er ist der Bruder des Küsters oder dessen Cousin – er weiß es nicht mehr genau, aber das ist auch nicht wichtig, war es vielleicht nie. Seit vielen Jahren führt er Besuchergruppen durch den Dom, führt sie die schneckenhausenge Stiege hinauf ins Dachgestühl, wo man die grauen, aus Backstein gemauerten Iglus der Gewölbe sieht, führt sie die Rampe hinab in den Keller, wo sich ein älteres Heiligtum befindet (das zu zeigen ihm untersagt ist), führt sie durch den Kreuzgang mit den verblassenden Rötelzeichnungen, die in schwungvollem, fast kühnem Strich das Leben Jesu’ illustrieren. „Hier sieht man die Anbetung der Heiligen Drei Könige“, will er gerade sagen, obwohl er weiß, wie falsch die Bezeichnung ist (denn es sind ja eigentlich die Könige, die anbeten), da erinnert er sich. „Erinnern“ ist das falsche Wort, denn es ist vielmehr, als würde ihn die Vergangenheit einhüllen, überspülen wie die anrollende Flut den steinigen Strand. Als Kind, „erinnerte“ er sich, hatte ihn sein Vater,