Die exzentrische Lebensgeschichte des Künstlers und Verbrechers Benvenuto Cellini. Uwe Neumahr
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Es war in jener Zeit, als der ruhelos umherziehende Bildhauer Pietro Torrigiano in Florenz auftauchte, auf der Suche nach Gehilfen. In Cellini fand er zunächst einen Interessenten. Doch Torrigianos Verhalten dem großen Michelangelo gegenüber – Torrigiano war es, der dem jungen Genie mit einem Fausthieb die Nase zertrümmert hatte – empörte Cellini nach dessen Aussage so sehr, dass er Torrigianos Angebot, mit ihm nach London zu gehen, ablehnte. Nach dieser Episode, so macht Cellini seine Leser glauben, interessierte er sich vermehrt für den Stil Michelangelos, an dessen Kartons er sich weiterbildete. Er freundete sich mit Francesco Lippi an, dem Sohn des Malers Filippino Lippi, mit dem er viel Zeit verbrachte. Filippinos Zeichnungen von römischen Altertümern inspirierten Cellini für seine eigene Arbeit und nährten in ihm den Wunsch, die Zeugnisse der klassischen Kunst mit eigenen Augen zu sehen. Wieder kam es zu einer Auseinandersetzung mit dem Vater über seine berufliche Zukunft. Kurzerhand schnürte Cellini die Stiefel und begab sich gemeinsam mit seinem Freund, dem Holzschnitzer Giambattista Tasso, auf den Weg über Siena nach Rom. Während Tasso die Ewige Stadt aber bald wieder verließ, verbrachte Cellini dort zwei Jahre und setzte seine Lehrlingswanderschaft fort.
Es kam nicht von ungefähr, dass sich Cellini vom zeitgenössischen Rom angezogen fühlte. Während des Pontifikats Leos X. wiederholte sich, was achtzig Jahre vorher unter der Führung seines Urgroßvaters in Florenz begonnen wurde. Gelehrte und Künstler strömten herbei, um die Gunst des kunstfreudigen Medici-Papstes und seiner Gefolgsleute zu gewinnen. Leo X. plante große Werke, die von Raffael und anderen Künstlern ausgeführt werden sollten, und machte es sich zur Aufgabe, Wissen und Kunst auf vielfältige Weise zu fördern. Von dieser Aufbruchsstimmung, den Auftragsmöglichkeiten und der Dichte an hochqualifizierten Kunsthandwerkern wollte auch Cellini profitieren. Paolo Arsago und Giovanni de Georgis da Firenzuola lauten die Namen der Goldschmiede, die ihm halfen, sich in den verschiedenen Verfahren der Metallbearbeitung zu perfektionieren. Cellini, der es kaum länger als ein paar Monate bei einem Meister aushielt, unterließ es dabei nie, einen Teil seines Verdiensts der Familie in Florenz zu schicken. Zurück in der Heimatstadt arbeitete Cellini für Francesco Salimbene und setzte seine Studien fort, auch des Nachts, wie er betont, weil er tagsüber kostbare Zeit mit dem Blasen vergeuden musste. Kaum hatte er sich wieder eingelebt, als er bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung am 13. November 1523 Gherardo Guasconti mit Stichen an den Armen und in der Lendengegend verwundete. Guasconti entstammte einer einflussreichen Goldschmiedefamilie, mit der Cellini beruflich in Kontakt stand. Jähzornig und von Rachsucht getrieben war Cellini in dessen Werkstatt eingedrungen, weil er sich von der Familie des Verwundeten und den Otto di Guardia e Balìa ungerecht behandelt fühlte. Für einen Faustschlag, den er Gherardo Guasconti zuvor bei einer Rauferei am Mercato Nuovo gegeben hatte, wurde er zu einer Buße von 12 Scheffeln Mehl verurteilt – zu Unrecht, wie Cellini überzeugt war, denn es war seiner Meinung nach lediglich eine Ohrfeige gewesen.
Gewalt und Sodomie
Cellini verschweigt in seiner Vita nicht nur die Schwere der Verletzungen, die er seinen Widersachern zufügte. Ein Bekannter Gherardo Guascontis wurde von ihm ebenfalls verwundet, wie die Gerichtsprotokolle beweisen. Auch einen anderen Urteilsspruch, der einige Monate früher, am 15. Januar, gegen ihn verkündet wurde, unterschlägt er. Dabei handelte es sich um eine pikante Angelegenheit. Cellini war gemeinsam mit einem Freund für eine „unzüchtige Handlung“ als Buße zu 12 Scheffeln Mehl für ein Kloster verurteilt worden. Er hatte sich an Domenico di Ser Giuliano da Ripa der Sodomie schuldig gemacht, der aktiven Unzucht.32
Mit den beiden Urteilen im Jahr 1523 treten zwei Eigenschaften Cellinis hervor, die ihm ein Leben lang Probleme bereiteten: seine Gewalttätigkeit und seine sexuelle Präferenz für junge Männer. Homosexualität war in Florentiner Künstler- und Intellektuellenkreisen seit jeher verbreitet. Als der Dichter Dante auf seinem Weg durch die Hölle im 15. Gesang der Göttlichen Komödie seinem Mentor Brunetto Latini begegnet, fragt er, wer Latinis Begleiter unter den Sodomiten seien und erhält eine offene Antwort: „Allgemein sollst Du nur wissen: Es waren alles Kleriker und große, weithin berühmte Literaten, die sich alle mit ein und demselben Laster befleckt haben.“ Was für Kleriker und Literaten galt, ließ sich ebenso über bildende Künstler sagen. Leonardo da Vinci war 1476 in Florenz wegen Sodomie vor Gericht gestellt worden. Botticelli wurde 1490 und 1502 des gleichen Vergehens wegen angeklagt.
Der Begriff „Sodomie“, unter den auch Cellinis justiziables Fehlverhalten fiel, war damals ein Sammelbegriff, der Homosexualität, Päderastie, Masturbation und Sodomie umfasste, letztlich alle sexuellen Akte „gegen die Natur“, die nicht der Fortpflanzung und damit dem göttlichen Zweck der Sexualität dienten. Selbst ein sexueller Akt, bei dem die Frau auf dem Mann saß und der für die damaligen Gesetzeshüter eine Umkehrung der aktiven Rolle bedeutete, fiel unter die abweichenden Praktiken. Zwischen 1432 und 1502 gab es in Florenz dreizehntausend Untersuchungen gegen Männer, die sich sodomitischer Vergehen verdächtig machten, zweitausend wurden verurteilt.33 Fast jeder zehnte Florentiner geriet unter den Verdacht der Ausübung abweichender Sexpraktiken. Der Ruf der Stadt war derart, dass man in Deutschland Homosexuelle als „Florenzer“ bezeichnete. Die Sei Ufficiali di Notte, die sechs städtischen nächtlichen Ordnungshüter, gingen ausschließlich dem Vergehen der Sodomie nach. Sie mussten die anonymen Anzeigen und Selbstanzeigen der an Kirchen angebrachten Denunziationsbriefkästen auswerten. Die Sodomiegesetze von 1514 unterschieden in Erst- und Mehrfachtäter, dazu gab es drei Kategorien von Altersgruppen, die Vierzehn- bis Achtzehnjährigen, die Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen und die über Fünfundzwanzigjährigen. Die Todesstrafe wurde nur für die über Fünfundzwanzigjährigen vorgesehen, jedoch so gut wie nie angewendet. Michael Rocke hat in seiner Studie zur Homosexualität in der Florentiner Renaissance allerdings festgestellt, dass „Sodomie“ als Teil einer normalen männlichen Entwicklung betrachtet wurde, solange sie zeitlich begrenzt und Teil eines Lebensabschnitts war.34 Dem ist hinzuzufügen, dass die Bestimmung individueller Identität mittels der Sexualität ein modernes Phänomen ist, ebenso die Vorstellung von Homosexualität als „Seinsweise“. Cellini war nonkonform, oder, wie man heute sagen würde, queer. Es war für ihn wie für viele seiner männlichen Zeitgenossen normal, mit Frauen und jungen Männern Sex zu haben. Vor dem Hintergrund humanistischer Denkweise tat er ohnehin nichts anderes, als entsprechende Sitten der Antike wiederzubeleben. Cellini unterschied nicht anhand des Geschlechts, sondern mittels der Kategorien „aktiv“ und „passiv“ während des Geschlechtsakts. Ihm war wichtig, wie seine Äußerungen in einem späteren Prozess belegen, dass ihm der aktive, „männliche“ Part vorbehalten blieb. Er wollte penetrieren, dominieren und kontrollieren.
Die Milde, die Cellini in seinem ersten Verfahren wegen Sodomie zuteilwurde, steht im Kontext der allgemein angewandten Mildtätigkeit. Zwar stand Sodomie unter Strafe und man wollte sie unter Kontrolle halten. Die Richter zeigten sich aber verhältnismäßig tolerant und erachteten das Vergehen als Jugendsünde. Cellini war Ersttäter und unter fünfundzwanzig Jahre alt. Jahrzehnte später sollte es sich in einem weiteren Sodomieprozess anders verhalten, doch dazu an geeigneter Stelle mehr. Ganz und gar nicht milde hingegen fiel das Urteil wegen seines gewalttätigen Handelns im Fall Guasconti aus. Cellini wurde zum Tod durch Erhängen verurteilt.
Cellini war gewalttätig, sein Leben lang. Drei Morde sind aktenkundig, wovon einer als Totschlag im Affekt bezeichnet werden