KOPFLOS IM KURHOTEL. Christina Unger
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Als sie aus dem Lift stiegen, betraten sie einen kleinen Raum mit gemütlichen Sitzmöbel und runden Tischchen. Menschen in flauschigen weißen Bademänteln flanierten mit Tassen hin und her, gurrten wie Friedenstauben und lächelten immerfort. Auf den Rücken der Bademäntel trugen sie den aufgestickten Schriftzug: Jeder Tag soll dein Glückstag sein. Walter und Beate blickten betreten an sich hinunter – sie waren die einzigen in Straßenkleidung.
»Wenn ich was Ordentliches zu essen bekäme, könnte tatsächlich jeder Tag ein Glückstag werden«, grummelte Walter. »Und wenn ich jetzt auch noch einen Drink kriege, wäre mein Glück unfassbar groß.«
Die Bar, von der sie sich kostenlos bedienen durften, war reich bestückt. In großen Warmhaltekanistern gab es allerlei im Angebot. Walter setzte seine Lesebrille auf und las vor: »Blasentee, Gallentee, Lebertee, Entschlackungstee, Matetee, Schlaftee …« Er nahm die Brille ab und drehte sich zu Beate um. »Wozu darf ich dich einladen? Darf es ein Tässchen Gallentee sein?«
Beate musste lachen. »Irgendwie habe ich so etwas erwartet.«
Der Entschlackungstee, für den sich Walter entschieden hatte, schmeckte abartig bitter, und er suchte nach einem Napf, wo er ihn wieder loswerden konnte. Beate trank Matetee in kleinen Schlucken und lächelte tapfer. Sie wollte unter keinen Umständen auffallen.
Ein Mann Anfang vierzig im weißen Bademantel gesellte sich zu ihnen. Seinen schmalen Adlerkopf schmückte eine Vollglatze und über seinen stechenden, gletscherblauen Augen wuchsen kaum oder sehr blasse Augenbrauen. »Neu hier?«, gurrte er verständnisvoll.
»Sieht man uns das so deutlich an?« Beate lächelte verlegen.
Er grinste schmallippig. »Man gewöhnt sich daran, falls Sie das tröstet. Ich bin bereits eine ganze Woche hier und fühle mich jetzt schon wie neu geboren.«
Beate starrte fasziniert auf seinen Adamsapfel, der während des Sprechens auf und ab hüpfte.
Walter erwiderte nichts und nahm eine Dörrpflaume aus einem Vakuumglas.
»Vorsicht!«, warnte der Fremde. »Eine von denen hat sechzehn Kalorien!«
Walters Hand zuckte zurück, als habe er in Feuer gegriffen. Über sich selbst erzürnt, schob er sich trotzig die Pflaume in den Mund. »Vom Entschlackungstee ist mir beinahe schlecht geworden. Ich muss diesen Geschmack im Mund loswerden.«
»Versuchen Sie den Lindenblütentee, der ist noch am erträglichsten«, riet der Fremde und fügte hinzu: »Ich sitze im Speisesaal am Nebentisch. Ich habe Sie heute Mittag beobachtet.«
»Tut mir leid, ich habe Sie nicht wahrgenommen«, entschuldigte sich Walter. »Für uns ist alles noch neu.«
»Wieso beobachtet?«, wollte Beate wissen, die das Grinsen ihres Gegenübers an einen lachenden Haifisch erinnerte.
»Ich habe beobachtet, dass Sie sich mit den zwei alten Jungfern schon angefreundet haben.«
Beate errötete. Diese Formulierung für zwei alleinstehende Damen hielt sie für unangebracht. »Angefreundet ist zu viel gesagt. Wir sind Tischnachbarn, da redet man halt miteinander.«
»Frau Professor Rosenblatt und Margot Kitzler – ein lustiges Gespann. Mit Frau Kitzler war ich schon zweimal im Buschenschank. Das ist ein beliebter Treffpunkt bei den Kurgästen. Die Frau Professor gibt sich mit unsereins ja nicht ab, die spricht nicht mit jedem.«
»Ich dachte, so was Ungesundes wie ein Buschenschank ist tabu?«, wunderte sich Beate.
»Ab und zu gönnen wir uns dort ein Gläschen Wein, mehr nicht.«
»Wir als zahlende Gäste können sowieso tun und lassen was wir wollen«, trumpfte Walter auf. »Aber die Kassenpatienten werden gnadenlos heimgeschickt, wenn sie beim Fremdgehen erwischt werden, hat uns die Kurärztin verraten.«
»Zurecht. Wozu zahlen wir Beitragszahler denen einen Aufenthalt hier, wenn sie damit Schindluder treiben. Ich unterstütze das vollkommen.«
»Sie sind aber sehr streng!«, bemerkte Beate.
»Manche verstehen nur strenge Regeln.«
»Frau Kitzler ist auch Kassenpatientin«, sagte Beate beiläufig. »Bei ihr sind Sie aber nicht so streng.«
»Sie trinkt dort höchstens ein Gläschen Schilcherwein, oder zwei, das reicht schon, dass sie hinterher besonders lustig drauf ist.« Der Fremde grinste.
»Wie muss ich mir besonders lustig vorstellen?«, wollte Walter neugierig wissen.
»Das soll sie Ihnen selber sagen, aber vielleicht gehen Sie mit uns ja einmal aus? Jetzt muss ich mich umziehen, wir sehen uns später im Speisesaal. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen noch.«
Als er gegangen war, sagte Beate: »Mir ist der Mensch irgendwie unheimlich.«
»Sei nicht albern! Was ist an dem unheimlich?«
»Hast du nicht seine Augen gesehen? So eiskalt und stechend. Und dieser lauernde Gesichtsausdruck.«
»Was du dir alles einbildest!«
Die schreckliche Wahrheit
Kurz vor dem Abendessen erschien die Polizei mit einem sehr bleichen Hotelmanager. Dieser bat die Gäste, sich im Foyer zu versammeln, ehe sie den Speisesaal aufsuchten. Er hatte eigens ein Mikrofon mitgebracht, damit auch die in der letzten Reihe ihn deutlich hören konnten.
»Ich möchte mich den neuen Gästen kurz vorstellen«, begann er und lächelte gequält. »Ich bin Josef Bundschuh, Ihr Gastgeber in der Bio-und-Wellness-Alm. Jene Gäste, die schon länger hier sind, kennen mich ja bereits. Dennoch muss ich auch Sie bitten, hierzubleiben. Es ist etwas vorgefallen, worüber der Herr Chefinspektor mit Ihnen sprechen möchte. Es tut mir leid, aber der Anlass ist nicht erfreulich.« Er wandte sich dem hochgewachsenen schlanken Mann mit den schwarzen Haaren zu. »Bitte sehr, Herr Chefinspektor, Sie haben das Wort.«
Der Chefinspektor war ein Mittvierziger mit einem kraftvollen und gleichzeitig empfindsamen Gesicht. Er trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd mit offenem Kragen und sah gar nicht nach Polizei aus. Man hätte ihn leicht für einen Kurgast halten können einen zahlenden. Er bedankte sich bei Josef Bundschuh und übernahm das Mikrofon. Seine Augen überflogen die Gästeschar, die ihn teils erwartungsvoll, teils verunsichert anstarrte. Die Polizei in ihrem Wellnesshotel? Gab es am Ende gar Terroralarm? In einer Welt, die komplett aus den Fugen geraten war, musste man schließlich mit allem rechnen.
»Ich bin Chefinspektor Arcan Yilmaz aus Bad Rosendorf«, stellte er sich vor. Seine dunkle Stimme besaß ein sanftes Timbre und er wählte seine Worte mit Bedacht. »Der Grund, warum ich heute zu Ihnen spreche, ist leider ein sehr ernster. Zu meinem größten Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass zwei potenzielle Gäste im Bärenwald tot aufgefunden wurden …«
Ein Raunen ging durch die Zuhörer.
»Es war Gewalt im Spiel«, ergänzte der Chefinspektor, ersparte den Kurgästen jedoch die grausigen Details. Früher oder später würden sie ohnehin alles in den Zeitungen nachlesen können.
Das