Die Frau am Dienstag. Massimo Carlotto

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Die Frau am Dienstag - Massimo Carlotto Transfer Bibliothek

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in denen weniger Verkehr herrschte. Während seiner Rekonvaleszenz hatte er einen unsichtbaren Feind entdeckt, dem er um jeden Preis aus dem Weg gehen wollte. Eines Tages hatte er gehört, wie die Ärzte darüber diskutierten, dass bei Smog und hoher Feinstaubbelastung die Zahl der Patienten mit akuten Herzproblemen anstieg. Ob das genauso auf Schlaganfallpatienten zutraf, hatte er sich gefragt und Nachforschungen angestellt. Inzwischen glaubte er daran, denn am Tag seines Schlaganfalls waren die Schadstoffbelastungen in der Luft extrem hoch gewesen, die Feinstaubwerte wesentlicher höher als erlaubt. Die Schuld hatte man dem hohen Verkehrsaufkommen gegeben.

      Die Psychologin auf seiner Station, die von Bett zu Bett ging und die Patienten darüber informierte, dass ihr Leben sich ab jetzt unwiderruflich verändern werde und man dieser Herausforderung mit dem nötigen Verantwortungsbewusstsein begegnen müsse, hatte ihm angekündigt, dass er die Welt von nun an mit anderen Augen sehen werde.

      Teilweise hatte sie recht behalten. Anfangs musste er lernen, sich auf den Beinen zu halten, wieder zu laufen. Seine Beziehung zu seinem Körper wurde eine andere. Nie hatte er daran gedacht, dass man auf den Körper hören sollte und musste, um rechtzeitig zu merken, wenn er einem wieder einen Streich spielte. Und es gab noch etwas, mit dem er sich jeden Tag zu befassen hatte: seine Medikamente. Pillen, Tabletten, Pulver. Halbe, ganze, vor dem Essen, zum Essen, nach dem Essen, lange nach dem Essen. Viermal am Tag. Für immer.

      „Sie müssen akzeptieren, dass Sie an einer chronischen Krankheit leiden. Nur die Therapie hält Sie am Leben“, hatte der Arzt auf die Frage geantwortet, wie lange er alle diese Medikamente nehmen müsse.

      Eigentlich war er optimistisch gewesen, da seine Genesung recht gut verlief, die Logopädin zufrieden war mit seinen Fortschritten und er sich selbst immer besser fühlte. Die ärztlichen Prognosen hatten ihm hingegen einen Schlag versetzt.

      Sobald er in sein Zimmer in der Pension zurückgekehrt war, hatte er im Internet recherchiert, was genau chronische Krankheit bedeutete.

      Das seien alle Krankheiten, die mit einer langsamen und fortschreitenden Verschlechterung der normalen Körperfunktionen einhergingen, las er dort. Und aus diesem Grund bezeichne man sie als chronisch, als nicht mehr wirklich heilbar.

      Er hatte geweint, hatte gar nichts dagegen tun können. Erst jetzt wurde ihm das volle Ausmaß seiner Krankheit bewusst und traf ihn bis ins Mark. Er hatte das Pillendöschen aus der Tasche gezogen, ein Geschenk des Apothekers an seinen neuen Stammkunden, und die Farben und Formen seiner Medikamente betrachtet. Rund, oval, weiß, gelb, orange … Wie schafften sie es überhaupt, seinen Blutdruck und sein Cholesterin unter Kontrolle zu halten, fragte er sich. Vorher hatte er sich nie darüber Gedanken gemacht, wie Papaverin seinen Schwanz hart wie Marmor werden ließ, jetzt wurde es wichtig. Diese Pillen würde er jeden verdammten Tag nehmen müssen bis zu seinem letzten Atemzug.

      Bekanntermaßen retteten Medikamente einem das Leben, zumindest in der Theorie, dass sie genauso gefährliche Eindringlinge waren, verdrängte man gerne. Sie waren gleichermaßen gut wie böse. Sie beeinflussten den Organismus, veränderten ihn und heilten Krankheiten, aber manche Inhaltsstoffe konnten einen sogar ganz leicht vergiften.

      Bonamente war fest davon überzeugt, dass die Chemie etwas Geheimnisvolles hatte, dass sie Fluch und Segen zugleich war. Daher betrachtete er sie nicht als eindeutig gute und freundliche Macht, fühlte sich vielmehr von ihr belagert, unterdrückt und bedroht. Immer, wenn er etwas aß, ein Glas Wasser trank oder durch die Straßen schlenderte, quälte ihn die Vorstellung, irgendetwas zu sich zu nehmen oder einzuatmen, das mit Chemie zu tun hatte.

      Er versuchte dem Problem aus dem Weg zu gehen, indem er sich mit den Medikamenten nicht mehr befasste, sondern sie einfach schluckte. Sie in der Apotheke zu besorgen und die Einnahmezeiten festzulegen, das überließ er Signor Alfredo, der ihn mit der Präzision einer Krankenschwester überwachte. Er selbst sah sich immer mehr als Ergebnis eines falschen Lebenswandels, als Opfer der vielen Chemie, die er jahrelang zu sich genommen und die ihn Tag für Tag schleichend vergiftet hatte.

      Und heute hatte Martucci in seiner Hellsicht ihm eine Rolle angeboten, die perfekt zu diesem Dilemma passte. Die des Komapatienten, der nach seinem Aufwachen den Krankenschwestern an die Wäsche geht. Es würde seine letzte sein, das Ende seiner Karriere.

      Bislang hatte er sein Leben nicht allzu ernst genommen, hatte keine Angst vor der Zukunft gehabt, jetzt könnte das anders aussehen.

      Er war in einer ehrgeizigen Familie aufgewachsen, in der die feste Entschlossenheit herrschte, der sozialen Schicht zu entwachsen, der man über Generationen angehört hatte. Er sollte in die Fußstapfen seines Vaters treten und alle sich ihm bietenden Möglichkeiten nutzen, doch er war Zagor geworden, weil alles, was mit gesellschaftlichen und familiären Beschränkungen zu tun hatte, eine Horrorvorstellung für ihn war. Was ihm am meisten Angst eingejagt hatte, waren die Dynamik in den Familienbeziehungen, die Last von Gefühlen, die Verpflichtungen, die Abneigungen gewesen. Mit etwa fünfzehn hatte er sich geschworen, nie zu heiraten, mit zweiundzwanzig sich einer Vasektomie unterzogen, um keinen Nachwuchs zu produzieren. Er war weder beim Militär gewesen, noch hatte er ein Studium in Erwägung gezogen. Er wollte nichts hinterlassen, sondern seine Zeit auf Erden möglichst unproblematisch verbringen.

      Sorgfältig hatte er seine Spuren verwischt und seit Langem nichts mehr von seiner Familie gehört. Nachdem ein Freund seinem älteren Bruder Fabio eine DVD mit einem Film geschenkt hatte, in dem Zagor einen sadomasochistischen Exorzisten spielte, war es vorbei gewesen mit den Kontakten.

      Er hatte viele Beziehungen zu schönen Frauen gehabt. Kein Wunder. Er sah gut aus, besaß einen attraktiven Körper, war zudem sympathisch und durchaus in der Lage, ein halbwegs intelligentes Gespräch zu führen. Und keine der Frauen, mit denen er Affären gehabt hatte, stammte aus dem Pornomilieu, er wollte Job und Privatleben trennen. Dauerbeziehungen allerdings waren für ihn von vornherein ausgeschlossen, und die Affären dauerten nie lange an. Man trennte sich ohne Zorn und Bedauern und auch ohne besondere Erinnerungen.

      Jedenfalls bis zu dem Moment, als er sich in die Dienstagsfrau verliebt hatte. Seitdem richtete sich sein Gefühlsleben einzig auf den Dienstag von drei bis vier. Obwohl er es höchst ungern zugab, waren diese Treffen für ihn die perfekte Beziehung. Mehr konnte und durfte er nicht erwarten.

      Diese Frau, von der er weder Namen noch Telefonnummer wusste, hatte ihn verhext. So sehr, dass er sich ausschließlich auf sie konzentrierte und unter der Angst litt, sie zu verlieren. Und diese Angst war konkreter geworden, seit er ein behinderter Gigolo geworden war, der aufgrund eines Schlaganfalls keine chemischen Hilfsmittel für seine Potenz mehr nutzen durfte. Im Augenblick war die Leidenschaft zwar so groß, dass das nicht nötig war, dennoch blieb die Angst vor dem Versagen: An dem Tag, an dem er sie nicht mehr würde befriedigen können, würde er sie verlieren.

      Eine Überlegung, die seine Angebetete selbst vielleicht schon angestellt hatte, schließlich wusste sie ja von seinem Gesundheitszustand.

      Eines Tages hatte er im Krankenhaus die Augen aufgeschlagen und in ihr Gesicht geschaut.

      „Wie geht es dir?“, hatte sie besorgt gefragt und ihm über die Wange gestreichelt.

      „Wie es aussieht, war es ein Schlaganfall, zum Glück geht es mir bereits besser“, hatte er mit wild klopfendem Herzen geantwortet, denn dass die Dienstagsfrau zu Besuch gekommen war, das vermochte er nicht zu fassen. Tief bewegt hatte er begonnen, sich zu rechtfertigen: „Bei dem Leben, das ich führe, du weißt ja …“

      Sie hatte ihm einen Zeigefinger auf die Lippen gelegt und leise gesagt: „Erhol dich gut.“ Und dann war sie verschwunden.

      Der Besuch hatte ihn so aufgeregt, dass die Ärzte ihm Medikamente geben mussten, um seinen Blutdruck wieder in den Griff zu bekommen.

      Später

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