Ciros Versteck. Roberto Andò

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Ciros Versteck - Roberto Andò Transfer Bibliothek

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Santoro ahnte, dass sein Besucher auf einen Blick in das Arbeitszimmer erpicht war, und forderte ihn kurz entschlossen auf, ihm zu folgen.

      Als er sah, dass das Zimmer ebenfalls leer war, behalf sich Diego mit einer weiteren Bitte:

      „Würden Sie wohl dieses Stück für mich spielen, das Sie mir in meiner letzten Stunde bei Ihnen vorgespielt haben?“

      Er meinte das siebte Stück von Schumanns Kinderszenen mit dem Titel Träumerei. Der Maestro fragte sich, weshalb er es diesem für Musik gänzlich unempfänglichen Menschen vorgespielt hatte; in den Genuss kamen sonst nur solche, die ein Minimum an Talent zeigten. Nach einem kurzen Zögern nahm er in gesammeltem Schweigen auf dem Hocker vor dem Steinway Platz und schlug die ersten Phrasen der Träumerei aus dem Gedächtnis an. Als er das unbedarft schwelgerische Lächeln im Gesicht des jungen Mannes wahrnahm, brach er jäh ab und schloss den Klavierdeckel wieder.

      „Diese Musik macht einen wirklich sprachlos“, meinte der Schüler.

      „Umso besser“, versetzte der Maestro obenhin. Er stand auf, konterte den verdutzten Blick seines Besuchers und fügte hinzu:

      „Kann ich sonst noch was für dich tun, Diego?“

      Verlegen hielt ihm der junge Mann die Hand hin:

      „Sie haben schon mehr als genug getan! Es hat mich wahnsinnig gefreut, Sie wiederzusehen, entschuldigen Sie nochmals die Uhrzeit, und danke für die Gastfreundschaft.“

      Nach einem hastigen Abschied an der Tür konnte Gabriele Santoro endlich Ciro befreien.

      Als er die Klappe des Hängebodens aufstemmte, kauerte der Junge mit blasser, verängstigter Miene da. Er fühlte ihm die Stirn und stellte fest, dass er glühte. Er brachte ihn ins Arbeitszimmer, klappte das Schlafsofa auf und bedeutete ihm, sich hinzulegen. Beim Fiebermessen bemerkte er, dass der Junge vor Schüttelfrost zitterte. Binnen einer Minute war das Quecksilber auf neununddreißigeinhalb gestiegen. Vielleicht hätte eine Aspirin-Tablette das Fieber senken können, doch vermutlich hatte Ciro seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Also lief der Maestro in die Küche zum Kühlschrank, um nachzusehen, was er ihm zu essen machen könnte.

      Während er die dürftigen Möglichkeiten abwog – außer einer tiefgefrorenen Minestrone gab es nicht viel –, war plötzlich Geschrei zu hören. Er blickte in den Hof hinunter und sah Carmine Acerno, der drei Leute anbrüllte, darunter Diego. Obwohl nicht genau zu verstehen war, was er sagte, war Ciros Vater sichtlich außer sich. Unvermittelt machte er einen Satz auf den ehemaligen Schüler zu, packte ihn beim Kragen und verpasste ihm eine Ohrfeige. Die anderen standen mit betretenen Mienen daneben, als warteten sie auf ihre Abreibung. Doch es blieb bei der einen Ohrfeige, und kurz darauf trollten sich die Teilnehmer der eigenartigen Zusammenkunft.

      Ein paar Minuten lang stand Carmine da, dann ging er auf die Haustür zu, schaute unvermittelt auf und traf Gabrieles Blick. Sie musterten einander lange, dann wich der Maestro vom Fenster zurück.

      Es werden dieselben Dinge passieren, sie werden wieder passieren.

      Konstantinos Kavafis

      2.

      Die ganze Nacht hindurch saß Gabriele Santoro im Sessel seines Arbeitszimmers, wachte über den Jungen und trat hin und wieder ans Bett, um das Fieber zu kontrollieren oder ihm die Decke zurechtzuziehen. Mehrmals hörte er ihn im Schlaf stöhnen, und als die Temperatur abermals stieg, legte er ihm nasse Lappen auf die Stirn.

      Weil es ihn beschäftigte, nicht zu wissen, was los war, machte er sich den schwachen Moment des Jungen zunutze und fragte ihn nach dem Grund seiner Flucht. Doch wieder verkroch sich Ciro in undurchdringliches Schweigen und blieb ein Rätsel. Resigniert wartete Gabriele Santoro ab, bis dem Jungen die Augen wieder zufielen, und schloss ebenfalls die Lider.

      Gegen fünf Uhr glitt er endlich erschöpft in den Schlaf. Als er nach zwei Stunden erwachte – die Uhr zeigte zehn vor sieben –, trat er zu dem schlummernden Jungen, berührte ihn und stellte fest, dass er sich kühler anfühlte. Erleichtert ging er ins Bad, um sich zu waschen.

      Bedächtig und – sofern möglich – mit noch größerer Pedanterie, als er sie sonst bei seiner Morgenhygiene an den Tag zu legen pflegte, begann er sein Gesicht einzuseifen. Als sämtliche zu rasierende Partien mit Schaum bedeckt waren, betrachtete er sich im Spiegel. Ihm wollte kein Vers einfallen, nicht einmal einer von Kavafis. Als wäre die Dichtung der Welt mit einem Mal verstummt. Er musste an das verstörende Flehen in den Augen des Jungen denken, an die Wucht seines unergründlichen Blickes. Was wollten diese Augen? Vor wem hatten sie Angst? Und warum hatte er sich darauf eingelassen, ihn bei sich aufzunehmen?

      Er ließ den Rasierer über die Haut gleiten und empfand dabei eine Art wundersame Verlangsamung der Zeit, als wäre die Welt plötzlich stehen geblieben und die Angst des Jungen in ihrem Innehalten ebenso verschwunden wie sein Drang, sie zu verstehen. Dieses Wunder vermochte ihm sonst nur die Musik zu bescheren. Die in einem unendlich komplexen Augenblick gebündelte Zeit, der den Sinn der Ereignisse wandelte und eine Ahnung dessen aufscheinen ließ, was die Zukunft bringen mochte.

      Als er die Rasur beendet hatte, wusch er sich das Gesicht und stellte fest, dass er blutete. Ein winziger Schnitt unter der Lippe, eine Lappalie.

      Um am Ritual eines gewöhnlichen Morgens festzuhalten, ging Gabriele Santoro zuerst bei Marianos Kiosk vorbei und kaufte sich eine Zeitung. Während er das geschuldete Geld abzählte – sie hatten eine monatliche Vereinbarung und es war der 30. September –, kam ein Mann auf den Kioskbetreiber zu, flüsterte ihm etwas ins Ohr, nahm dessen Kopf in einer vermeintlich herzlichen, aber versteckt bedrohlichen Geste fest zwischen beide Hände und verschwand.

      Als sie wieder allein waren, wechselten er und Mariano einen Blick, der für gewöhnlich keinerlei Erklärung bedurft hätte. Doch an diesem Morgen wollte der Maestro nichts ungeklärt lassen, und als er die leise Angst im Gesicht des Mannes sah, mit dem er seit zwanzig Jahren seinen Tag zu beginnen pflegte, fragte er ihn, ob etwas nicht in Ordnung sei. Der Kioskbetreiber antwortete nicht sofort. Er steckte das Geld weg, trat aus dem Büdchen auf den menschenleeren Platz hinaus, stellte sich schweigend vor ihn hin und blickte ihn an.

      „Der Sohn von Carmine Acerno is’ verschwunden, Ciro“, raunte er dann wie ein Bauchredner. „Die dreh’n völlig durch, um ihn zu finden. Und dann gehen sie mir damit auf den Sack, als wär’ ich bei ihren Sauereien der Aufpasser.“

      Gabriele Santoro beschränkte sich auf ein Nicken.

      „Wie ist er denn verschwunden?“, fragte er gespielt beiläufig.

      „Abgehauen“, lautete die lapidare wie rätselhafte Antwort.

      Die vermeintlich neutrale Information ließ Gabrieles Puls ein wenig schneller gehen.

      „Wieso?“

      Eine gewagte Frage, wusste er doch, dass die Grundhaltung des Viertels ein Übermaß an Neugierde nicht billigte. Tatsächlich verzog Mariano das Gesicht zu einer ohnmächtig betrübten Miene und breitete die Arme aus.

      Unterdessen hatte es heftig zu regnen begonnen. Hastig und ohne, dass es eines weiteren Wortes bedurfte, gingen die beiden auseinander. Mariano verkroch sich wieder in seinen Kiosk, und als könnte die vom Himmel niederstürzende Sintflut seine Unrast fortspülen, machte sich der Maestro im strömenden Regen auf den Weg, um einen Kaffee zu trinken.

      Als das Mädchen hinter

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