Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann страница 58
In demselben Augenblick wurde das Tor geöffnet.
Von einigen Fackelträgern begleitet erschien Alexander im Dunkel der Halle.
Fünftes Kapitel.
Hephästion
Alexander hatte am Morgen mit Eumenes die neuen Steuer-Erlässe für Syrien beraten, und dieser hatte sie dann in Gegenwart Alexanders seinen Schreibern diktiert. Von Zeit zu Zeit kamen Boten mit Nachrichten aus dem makedonischen Lager. Die Führer, die nicht am Aufruhr teilgenommen, gingen bedrückt in den Wandelhallen des Palastes umher; ihr Herz zog sie hinaus. Mit verdachtvollen Blicken beobachteten sie die Gruppen der persischen Fürsten, und die meisten unter ihnen waren fester von Verrat umstrickt, wenn sie auch treu in ihren Handlungen geblieben waren, als die zu offenen Empörern gewordenen Söldner. Aber sie brauchten den Glanz des königlichen Lagers, die Gunst, die wohliges Genießen schuf, brauchten den rechtmäßigen Besitz ihrer Titel und Reichtümer. Alexander war ihnen das Auge ihrer schlaffen Behaglichkeit, das Hirn, das für sie dachte, die bewegende Kraft über ihrer süßen Ruhe, die Leiter ihrer wilden Hoffnungen. In ihren Wurzeln war noch nicht das Hinzehren zur Heimat erstorben. Im Geist unterhielten sie sich mit Alexander, wie es das Gewissen und die Ehrlichkeit verlangten. Demütige sie nicht, demütige uns nicht bis zum äußersten, sagten sie; willst du denn, daß die Welt, daß die Sicherheit der Millionen, willst du, daß alles nur an deinem Atem hängt, Alexander? Bedenke, auch du trägst ein Herz von Fleisch in der Brust, nicht anders als bei andern Menschen rollt das Blut; du kannst sterben; soll der ungeheure Bau auf einer einzigen Säule ruhen und in Schutt zerfallen, wenn sie bricht? Also erniedrige sie nicht zu sehr, die aus demselben Erdreich stammen wie du …
Wie um das Verschweigenmüssen ihrer Empfindungen zu entschuldigen, sprachen sie davon, wie gut es stets den Wahrsagern und wie übel den Wahrheitssagern ergangen war, und noch kühner waren ihre Gedanken in den schwarzen Stunden dieses Tages: keine Brücke führt mehr nach der Heimat, Asien wird uns vernichten, wie eine Schlange wird uns Asien umringeln, die Völker können sich nicht rächen für das vergossene Blut, aber Asien wird den Arm erheben, auch über ihn wird es kommen, auch ihn wird der finstere Rachen schlucken, schon reißt Babylon das Maul auf, schreit und weint nur, Makedonier, ihr habt Grund, heute ist der Tag, an dem die Ehre stirbt und das hellenische Auge bricht, heute ist der Tag vor der Nacht. Solcher Art aufgewühlt, gingen die Führer in den weiten Wandelhallen umher und erwarteten den Abend.
Es traf noch eine schlimme Botschaft ein. Einwohner und Soldaten kamen aus der Gegend von Ekbatana, erschöpft, verhungert, krank, verwundet. Das wilde Gebirgsvolk der Kossäer hatte sich empört, hatte die Besatzungen der Städte niedergemacht, und im oberen Land waren alle Tempel in Flammen und alle Dörfer verwüstet.
Je mehr die Welt um Alexander ins Kochen kam, je stiller, je starrer, je schweigsamer wurde er selbst. Je mehr Gefahren sich dann erhoben, je mehr vermochte er durch sie hindurch und hinter sie zu schauen. Während alle andern im Dunst der Erlebnisse lebten, stand er über den Nebeln. Da kam eine Traumklarheit über ihn, die ihn fähig machte, den dunklen Fleck in der ergebensten Brust zu sehen, und das menschliche Herz hatte keine Geheimnisse mehr; ihm selbst aber erstarb das menschliche Gefühl. Er vergaß Essen und Trinken, er bedurfte nicht mehr des Schlafs und der Ruhe, nichts konnte ihn überraschen, nichts ihn erschrecken, und ob Königreiche zerschmettert wurden, erregte ihn nicht mehr als das Fallen der Würfel beim Spiel. Aber es jauchzte auch nichts in ihm, die erhabene Kraft drang nicht in sein Bewußtsein, nachtwandlerisch war sein Wort und seine Gebärde, die Fäden, die er hielt, glitten wie von selbst durch seine Finger.
In der Stunde, als die Makedonier vor den Palast stürmten und ihr gräßliches Bittgeschrei alle Räume durchschallte, waren Perdikkas und Ptolemäos bei Alexander. Er machte keine Anstalten, sich den Flehenden zu zeigen, sondern beriet gleichmütig mit den beiden Leibwächtern über die Maßregeln gegen die Kossäer und welchem von den Führern, die er entbehren konnte, der Kriegs-und Rachezug anzuvertrauen sei.
Da stürzte Hephästion in das Gemach. Sein Gesicht war fahl, die Augen blutunterlaufen, seine Arme zitterten, sein Hals war von Worten gebläht, er hatte die Wache vor der Tür zur Seite geschleudert, und als er nun vor Alexander stand, sagte er nichts als: »Jetzt ist es endlich an der Zeit, daß du dich der Makedonier erinnerst.«
Unwillig erstaunt, als ob er einen ganz fremden Mann vor sich hätte, blickte Alexander Hephästion an und erwiderte keine Silbe.
Hephästions Körper, von Schweiß bedeckt, zuckte krampfhaft. Das Herz klopfte, als wolle es die Brust zerbrechen. Ihn verlangte es, den vielen Tausenden, die vor den Toren draußen um Einlaß und Gnade winselten, durch seinen Mund Worte zu verleihen; aber er konnte nur stammeln.
»Freund! Geliebter! Alexander!« rief er aus.
»Du wirst, Hephästion, morgen bei Tagesanbruch mit dreitausend Schildträgern und zweitausend Bogenschützen gegen Kolonai ziehen,« sagte Alexander kalt. »Sollten sich die Kossäer nicht zum Kampfe stellen, so wirst du sie in ihren Bergen aufsuchen. Es wird nur nachts und morgens marschiert. Megabyzos hat die Wegweiser zu stellen, Nesiotes den Proviant.«
Hephästions Gesicht glich dem einer Leiche.
Alexander hing das Schwert um, nahm den Helm und forderte Perdikkas und Ptolemäos durch einen Wink auf, ihm zu folgen. Draußen gab er dem Wache-Obersten noch einige Befehle, dann erst ließ er das Tor aufsperren. Er trat zu den Makedoniern hinaus.
Und mit einemmal war es, als hätte die angebrochene Dunkelheit die tausendfachen, zehntausendfachen Laute der empörten, gedemütigten, zur äußersten schmerzlichen Ungeduld getriebenen Scharen, als hätte sie ihr Schreien, Toben, Bitten, Jammern, Schluchzen, ihre Beschwörungen, Seufzer, Selbstvorwürfe und Klagen in einem einzigen Atemzug verschluckt.
Die Stille, die nun eintrat, vibrierte zuerst noch von all diesen Tönen, auch entstand sie nicht ganz jäh, sondern sie pflanzte sich von den Vordersten mit mäßiger Schnelligkeit nach allen Seiten fort; allmählich verklang auch das leiseste Flüstern. Da schien einem jeden der Hauch stehen zu bleiben und das Herz zu stocken. Ihre Augenlider hörten auf, sich zu bewegen, ihre Augensterne erstarrten, und nur ein langer, gieriger Blick suchte Alexander.
Es war eine so ungeheuerliche Stille, daß das Flattern einiger Vögel, die in ziemlicher Ferne über die äußere Palastmauer flogen, wie etwas Rätselhaftes, Niegehörtes vernommen wurde.
Die Nacht war ein Trost, Scham erfüllte sie alle. Keiner hätte in solcher Verfassung vom geliebtesten Freund gesehen werden mögen. Es war ihnen zumut, als senke sich das Himmelsgewölbe langsam herunter und laste schwer auf ihren Köpfen. Obwohl eingekeilt in die Masse, links und rechts und vorn und hinten berührt von diesem riesigen Körper, hatte jeder einzelne das Gefühl der Einsamkeit. Sie dachten an ihre Gastmahle, ihre Weiber, ihre Schätze, nur um die Schauer dieser Augenblicke zu verringern.
Endlich ein erlösender Schrei: »Vergib, Alexander!« Um eine verneinende Antwort, ein bedenkliches Kopfschütteln, eine unschlüssige Gebärde zu verhindern, wiederholten tausende, abertausende Kehlen die Worte. »Vergib, Alexander, vergib!« Die Masse fing wieder an, sich zu bewegen, zog sich noch mehr zusammen, wälzte sich gegen die Terrassentreppe und schob sich dort in die Verengerung wie die erhobene Pranke eines riesenhaften Tieres. Ein ohrenbetäubendes Wirrsal von Rufen der Angst,