Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
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Selbst auf die verhärteten Sinne der Söldner wirkte es befremdend, wie das Bild des Mordes in den süßen Frieden eines paradiesischen Tals eingewebt war. Leuchtend weiß und grau stiegen die Gebirge empor; der Seespiegel begann sich schon schwärzlich zu färben, das Getier, das sich auf ihm getummelt, verschwand lautlos.
Die Söldner löschten das Glimmen des Gebälks im Tempelinnern, richteten die Zelte auf, brieten Vögel am Spieß, die sie in Eile geschossen, kochten Reis in großen Pfannen.
Arrhidäos liebte das Schweigen der Natur. In Stunden wie diese fühlte er sich allem Geschehenen überlegen, und das Ungeschehene schien ihm allein vorbehalten. Ihm war, als ob mit dem Wunsch und der Glut des Wünschens schon das Wichtigste vollbracht sei. Die Tat war nur der enteilende Schatten des Traumes von ihr. Allmählich stieg seine wunderbare Erregung so sehr, daß er aufsprang und mit großen Schritten umherging. Er erschien sich in diesem Augenblick als der beseelende Dämon, der in Alexander aus der Ferne gewirkt, der dem Geiste nach vollbracht, was Alexander dem Wesen nach und vor den Augen der Welt erreicht hatte.
Indem er sich umdrehte, stolperte er über einen Stein. Das betrübte ihn als schlechtes Vorzeichen, und statt des Lichts sah er nun auf einmal wieder Dunkelheit vor sich. Warum bin ich denn nach Asien gegangen? dachte er. Warum in ein Land, das schon ein anderer besitzt? warum nicht gegen Westen? warum nicht in den furchtbaren Norden? was will ich hier, wo alles schon getan ist? Eine fressende, unbestimmte Sehnsucht erfüllte Arrhidäos’ Herz. Vom Lager herüber drang das Schwatzen der Söldner, aber als er sich dem Hain näherte und die Stille wie etwas Bewegliches auf ihn zufloß und ihn umhüllte, löste sich der Lärm des kleinen Lagers auf und zerbrökelte wie Salz in Wasser. Hie und da drang noch ein rohes Lachen herüber oder die heisertrunkene Stimme Dions, der ein Kornstampferliedchen vortrug. In einer Mischung von Einsamkeitsgrauen und Götterfurcht begann Arrhidäos zu weinen.
Dem Ufer folgend, kam er an einen gewaltig dicken Baum, dessen weithinausgreifende Äste bis über den Wasserspiegel hingen. Am Fuß des Baumes, auf dem im Nachtschein gelbschimmernden Moos lag ein schlafendes Weib. Arrhidäos starte eine Weile auf sie herab. »Wer bist du?« fragte er mit seiner heiseren Stimme und berührte mit der Sandale den nackten Arm der Emporschreckenden. Er erhielt keine Antwort und stand eine Weile ratlos. Dann wandte er sich und stieß einen hallenden Doppelruf aus. Seine beiden Sklaven liefen herüber, einer trug die brennende Fackel. Arrhidäos befahl ihnen, das Weib ins Lager zu führen, und versank wieder in sein trübe gärendes Innere.
Als er zurückkehrte, hatten sich die Söldner schon zur Ruhe hingelegt. In den Bergen schallte der Schrei des Wildes, Vogelrufe tönten durch die Nacht, die Spannketten der Pferde klirrten. Als Arrhidäos sich zum Schlaf hinlegen wollte, kam der lydische Wegführer und machte ihn auf jenes Weib aufmerksam, das von den beiden Sklaven gefolgt durchs Lager schritt und in abgebrochenen Lauten vor sich hinsang. Es klang wie die Rufe der kleinen Wüsteneule, wenn der Hirt in den Euphratebenen am Abend seine Herde zusammentreibt. Ihr Gang war nicht leicht und befreit wie jener der Griechinnen, nicht hüpfend wie bei den Ägypterinnen, nicht rasch und kraftvoll wie der Gang skythischer Frauen, sondern es war etwas Nachlässiges und Schleppendes in ihm. Es war der zögernde Schritt einer ziellos und willenlos Gehenden, noch dazu beschränkt durch das enge babylonische Kleid.
Vor dem Altar, von dessen Ecke eine der gestürzten Säulen im Fall einen Widderkopf abgeschlagen hatte, las sie die Opferscheite aus Zedernholz von der Erde auf, reinigte sie mit einem weißen Tuch, legte sie in Reihen zu vieren übereinander, forderte von den Sklaven die Fackel und setzte das heilige Feuer wieder in Brand. Arrhidäos sah eigen bewegt hinüber, denn es war ein schönes Bild: das Weib rötlich beschienen vom aufleckenden Feuer, die beiden Sklaven lautlos furchtsam, rings schlafende Söldner, die stillschreitenden Wachen an den Enden des Lagers, der halbzerstörte Tempel, die nachtschwarzen Gebirge und der Himmel von Sternenlichtern besät.
Arrhidäos preßte die Stirn in den Arm. Sein Gemüt war gedrückt, Rätsel über Rätsel erfüllten es. Ach, er beneidete die Nacht um ihren Frieden, den Tag um sein Licht, die Lustigen um ihr Lachen, die Steine um ihre Leblosigkeit. Plötzlich sprang er auf und fuhr den Lyder an: »Sprich ein gutes Wort, ein vorbedeutendes Wort, schnell, schnell, besinne dich nicht, wie es der Geist eingibt.«
Der Lyder nahm eine heuchlerische Feierlichkeit an und antwortete frech: »Alexander wird Arrhidäos fürchten lernen.«
Arrhidäos blickte schwermütig zu Boden. Dann lächelte er verächtlich, angewidert durch den Hauch der Lüge, kehrte dem Lyder den Rücken und schritt gegen den Altar. Er winkte den zwei Sklaven zu gehen und fragte die Fremde, wer sie sei, wann der Tempel zerstört worden und durch wen. Ihr Gesicht hatte alle Merkzeichen der chaldäischen Rasse: die platte kleine Stirn, die dicken, gleichsam blutenden Lippen und schwarze, leidenschaftliche Augen. Die Brauen, kaum geründet, flossen in der Mitte zusammen, ein Zeichen dunkler Kräfte. Der Blick brach unter den schweren Lidern hervor und verkroch sich wieder darunter, so wie ein geheimnisvolles Wesen aus den Fluten des Meeres aufsteigt, mit kühler Lust die dumpfe Welt betrachtet und ruhesuchend wieder untertaucht.
Vor der Kälte der Nacht schauernd, zog sie das braune Wollgewand fest um die Schultern und gab bereitwillig Auskunft.
Sie war Liblitu, die Tochter Inusins des Babyloniers. Sie war in den Schoß der großen Anahita geflohen, um vom Aussatz zu genesen, und die Göttin, die das Blut in den Adern erzeugt und die sieben Himmelswasser beherrscht, hatte sie geheilt. Vor einigen Tagen waren Bewaffnete von Norden gekommen; ihr Führer Meno, von Alexander beauftragt, hatte vier Jahre lang vergeblich die Stadt Cambala belagert und war schließlich von den Einwohnern besiegt und verjagt worden. Furcht vor Alexander hielt Meno in den Gebirgen fest. Seine Soldaten empörten sich, und als er hierherkam und vor dem Bild der Anahita betete, erschlugen sie ihn, plünderten und zerstörten den Tempel und schleppten die meisten Priesterinnen mit fort. Nur sie selbst vermochte sich zu retten, denn als sie den Hain durchsuchten und sie unter den heiligen Schlangen fanden, packte sie Entsetzen; sie glaubten, die Göttin selbst sei aus der Erde gestiegen. Damit schloß sie den kargen sachlichen Bericht, in dem nichts Mitleidforderndes für sie selbst enthalten war. Ihre silbrige umflorte Stimme erinnerte an ihren Gang, sie hatte etwas Zögerndes, Unentschlossenes und Gefesseltes. Sie fragte um das Ziel der Truppe und bat um die Erlaubnis, dem Zug bis zum großen Heerlager folgen zu dürfen. Dort werde sie Klage erheben. Was sie sagte, hatte Vernunft und Bestimmtheit und flößte Arrhidäos Achtung ein; billigdenkend wie er war, beschloß er, die Einsame in seinen Schutz zu nehmen.
Der Morgen war voller Duft und Kühle. Die zackigen Kämme der gigantischen Felsenmauern schienen die Himmelsbläue zu zerschneiden. Ein Bach im steinigen Bett warf den kristallenen Schaum rauschend zur Tiefe. Eine uralte Brücke führte über den Bach nach aufwärts, und der Pfad wurde so steil, daß Mensch und Tier nur mühsam keuchend vorwärtskamen. Die Felsen waren hoch hinauf von alten Grabhöhlen so durchlöchert, daß sie wie ungeheure Wespennester aussahen. Der Weg wurde schmäler; die Pferde und Maultiere, in langer Reihe schreitend, fanden kaum Platz für ihre Füße. Einsamkeit und Totenstille!
Die Söldner beachteten weder die Gefährlichkeit noch die Großartigkeit des Pfades. Sie waren von einer Unruhe erfaßt, die jeder in sich selbst verspürte, ohne sie am andern zu merken. Die Babylonierin, auf einem Maultier hinter Arrhidäos reitend, war das Ziel ihrer erregten Blicke, ihres unablässigen Spähens. Sie hatten Weiber genug gehabt; von Milet bis Sardes hatten sie die Vergnügungen der Liebe bis zur Abspannung genossen, aber diesmal war es, als seien ihre Sinne durch Zauberei vergiftet. Es war, als ob ein Gluthauch der Wollust, der von dem Weibe ausströmte, sie unfähig mache,