Der Tod der Schlangenfrau. Ulrike Bliefert

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Der Tod der Schlangenfrau - Ulrike Bliefert Auguste Fuchs

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gekommen zu sein, dass sie auf diesem letzten Bild womöglich irgendetwas festgehalten hatte, das für den Mordfall – wenn es denn ein Mordfall war – von Belang sein könnte.

      »Gustchen?« Tante Hattie kam, den offensichtlich schwer von ihr beeindruckten von Barnstedt im Schlepptau, zu ihnen hinüber und unterbrach Augustes Überlegungen. »Der Herr Kommissar möchte wissen, ob jemand Fräulein Paulus gegen Ende der Pause vielleicht Tee oder Limonade nachgeschenkt hat. Hast du da irgendetwas oder irgendwen …?«

      »Nö«, Auguste blies die Backen auf und zuckte mit den Achseln, »und außerdem: Das könnte wirklich jede und jeder gewesen sein bei dem Gewusel hier.«

      »Ach ja? Und was ist mit den Negern?«, wandte von Barnstedt ein. »Die dürften ja bei allem … Gewusel … deutlich von den anderen zu unterscheiden gewesen sein!«

      »Ja, und? Was soll mit denen sein?«

      »Es heißt, die hätten sich Fräulein Paulus gegenüber … auffällig verhalten.«

      »Was meinen Sie denn mit ›auffällig‹?«

      »Fräulein Kröschke hat gesehen, dass die Verstorbene einen von denen laut schreiend geschlagen hat, als er sie angefasst hat, und sie soll …«

      »Wie bitte?«, unterbrach ihn Henrietta empört, »Herr Temba hat versucht, Fräulein Paulus zu helfen! Und sie hat auch nicht nach ihm geschlagen, sondern eindeutig halluziniert und versucht, irgendetwas – oder irgendjemand Unsichtbaren – abzuwehren.«

      »Mit Unsichtbarem befassen wir uns hier aber leider nicht, gnädige Frau«, von Barnstedt unterstrich seinen offenbar als Wiedergutmachung gemeinten Einwand mit einem angedeuteten Handkuss. »Wir müssen uns schon an die Tatsachen halten.«

      »Schön. Dann tun Sie das«, versetzte Henrietta ungnädig und wandte sich zum Gehen. »Und eine der Tatsachen ist, dass diese Lina Kröschke sich da was zusammenreimt, das so nicht stattgefunden hat!«, setzte sie, für jeden im Raum deutlich hörbar, hinzu.

      Von Barnstedt war sichtlich düpiert. »Noch ist ja überhaupt nicht geklärt, ob es sich tatsächlich um einen Tötungsversuch gehandelt hat«, brummte er in seinen Bart und wies seinen Assistenten mit einer Kopfbewegung an zu gehen. »Wenn Sie alles so weit aufgenommen haben …?«

      Jakob Wilhelmi nickte und steckte Kladde und Kopierstift ein, oder besser: Er tat so, als wolle er beides in seiner Jackentasche verstauen. Dabei stellte er sich bewusst so ungeschickt an, dass die Kladde zu Boden fiel.

      Reflexartig bückte sich Auguste, um das Büchlein aufzuheben, und landete Stirn an Stirn mit dem jungen Herrn Assistenten.

      »Schaffen Sie es, bis heut’ Abend das Bild zu entwickeln?«, wisperte er verschwörerisch.

      In der Charité schob der Medizinstudent Reginald Wündrich die Bahre mit der Toten, die die Sanitäter vor gut einer Stunde ins Institut für Gerichtsmedizin gebracht hatten, in den Sektionsraum. Gemeinsam mit dem Obduktionsgehilfen bettete er den Leichnam auf den Seziertisch und wartete auf seinen Herrn und Meister. Dass der Herr Direktor persönlich die Autopsie vornehmen würde, war, wie es hieß, auf die ungewöhnlichen Todesumstände zurückzuführen. Darüber hinaus hatte die Tatsache, dass es sich bei dem zuständigen Staatsanwalt um einen ehemaligen Burschenschaftskollegen der »Normannia Leipzig« handelte, die Angelegenheit erheblich beschleunigt.

      Reginald Wündrich seufzte. Ihm blieben die Türen solch illustrer Studentenverbindungen unweigerlich verschlossen. Sein Honorar in der Gerichtsmedizin war seine einzige Einkommensquelle, denn niemand in seiner Familie verfügte über Adelstitel, Landbesitz oder militärische Orden und Ehrenzeichen. Aber er war ein findiger Kerl und hatte sich die Roller’sche Kurzschrift angeeignet, die es dem obduzierenden Arzt erlaubte, seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen im Plauderton – sozusagen »ins Unreine« – von sich zu geben, während er mit Knochensäge, Skalpell und Rippenschere hantierte. Und so griff Reginald Wündrich eilfertig zu Papier und Bleistift, als Professor Straßmann den Raum betrat.

      »Äußere Leichenschau an Charlotte Paulus, Georgenkirchplatz 8, Berlin C 2, geboren am 12. November 1871 in Paderborn«, vermeldete der Obduktionsgehilfe im Kasernenhofton, und Straßmann beugte sich über die Tote. »Gesunde, gut genährte junge Frau«, er hob Arme und Beine an und begutachtete Rücken und Hinterkopf, »keine Narben, keine auffälligen körperlichen Merkmale. Leichte bis mittelschwere Abrasionen und Lazerationen an allen vier Extremitäten.« Als sein Assistent die Tote wieder in Rückenlage gebracht hatte, hielt Straßmann einen Moment inne. »Schade um das schöne Mädchen«, murmelte er. Dann setzte er das Skalpell an.

      Während der Direktor des Gerichtsmedizinischen Instituts die innere Leichenschau vornahm, entwickelte Auguste die letzte Platte und hatte kurz darauf die bewusste Fotografie vor sich liegen. Die restlichen Aufnahmen konnten warten: Juppi Weinfurth verfügte zu Augustes Verwunderung tatsächlich über genügend Feingefühl, die Bilder zunächst nicht in Umlauf zu bringen. Aber womöglich spekulierte er auch nur auf einen gewissen Gruseleffekt für den Fall, dass die Mordtheorie sich als zutreffend erweisen würde.

      Auguste griff nach der Lupe und schob die Kontorlampe ein wenig dichter heran, um auch nicht das kleinste Detail zu übersehen. Doch bevor sie das Bild näher in Augenschein nehmen konnte, klopfte es vorne an der Ladentür. »Wir haben zu!«, rief sie durch die offen stehende Werkstatttür, »können Sie nicht lesen?« Selbstverständlich hatte Julius Fuchs den Laden für den Rest des Tages geschlossen, und das entsprechende Schild war eigentlich nicht zu übersehen.

      »Doch. Lesen kann ich. Nur reinkommen kann ich nicht, wenn Sie mir nicht aufmachen.«

      Ärgerlich sprang Auguste auf und lief hinüber in den Verkaufsraum. »So dringend kann’s ja nu nicht sein, dass es nicht bis morgen warten … Hoppla!«

      Vor der Tür stand der junge Herr Kriminalassistent – deutlich früher, als sie erwartet hatte. »Verzeihen Sie, Fräulein Fuchs, aber man hat mich von Amts wegen für heute Abend zu einer etwas zeitaufwendigeren Angelegenheit abkommandiert, und deshalb dacht’ ich, ich guck schon vorher mal vorbei und frage nach, ob Sie vielleicht schon mit dem Entwickeln der Aufnahme fertig sind.«

      »Ja, bin ich. In dieser Sekunde! Kommen Sie rein!« Aus unerfindlichen Gründen war es Auguste ganz recht, dass Jakob Wilhelmi sie – von allen ungesehen – hier unten im Laden aufsuchte. Es gab zwar keinen Grund, sein Kommen vor ihrem Vater und Tante Hattie oder vor Hulda Preissing und dem Liftboy Luis zu verheimlichen, aber so ein bisschen Geheimniskrämerei hatte durchaus etwas Prickelndes; insbesondere angesichts der Tatsache, dass es sich zweifelsohne nicht gehörte, sich als unverheiratete junge Frau mit einem offenbar ebenfalls unverheirateten jungen Mann in einer von jedwedem Tageslicht – und jedweden Blicken Dritter – abgeschirmten Werkstatt zu treffen. Dass Wilhelmi keinen Trauring trug, hatte sie bereits am Nachmittag festgestellt. Aber spielte das bei einem rein beruflichen Stelldichein wie diesem etwa irgendeine Rolle? Nicht mal im entferntesten Sinne! Und so schob Auguste ihrem Besucher wie selbstverständlich den Arbeitsschemel ihres Vaters zurecht und nahm neben ihm Platz, so dicht, dass sich ihre Arme beinahe berührten. Jakob Wilhelmis Haar roch angenehm nach Makassar-Öl und sein Jackett nach nasser Wolle. So nah war Auguste bisher nur ihrem Vetter Gustav aus Breslau gekommen. Der umarmte sie für ihren Geschmack ein wenig allzu oft und innig, und er roch im Unterschied zu Wilhelmi nach abgestandenem Zigarrenrauch.

      »Eine, wie mir scheint, kerngesunde Person …«

      Ups! Redet der etwa von mir? Auguste war so in Gedanken versunken, dass sie regelrecht zusammenschrak, als Wilhelmi zu sprechen begann. Der junge Herr Kriminalassistent betrachtete eingehend die in der Bewegung festgehaltene,

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