Panik-Pastor. Martin Dreyer
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An den fünf Tischen herrscht ein reges Treiben. Ich gehe durch den Raum und kann die Diskussionen mitverfolgen. Teilweise ringen die Schüler richtig um einzelne Formulierungen, wie schön. Am Ende bitte ich die Jugendlichen, einen Vorleser aus jeder Gruppe zu bestimmen, der das Ergebnis in Form einer Lesung der Klasse vorträgt. Als Erstes kommt ein kleiner blonder Junge nach vorne. »Wir haben uns lange darüber unterhalten, was man aus dem Vers machen kann: ›Und wenn jemand dir auf die rechte Backe schlagen wird, dem biete auch die andere dar‹ (Matthäus 5,39). Unser Ergebnis ist so: ›Jesus sprach: Und wenn dir jemand auf die Fresse haut, dann sag ihm, dass er dir auch noch mal in den Magen boxen soll.‹« Staunendes Gelächter in der Klasse. Ich lobe das Ergebnis, denn es trifft die Aussage Jesu nach meinem Verständnis sehr gut.
Schließlich kommt die letzte Gruppe nach vorn. »Wir haben uns Folgendes überlegt: Bei uns kam es schon vor, dass Jungs aus den höheren Klassen unsere Handys abgezogen haben. Darum ist unsere Übertragung so: ›Jesus sprach: Und wenn dir jemand das iPhone klaut, dann schenke ihm deinen iPad noch dazu!‹«. Super, genau das ist es! Lauter Applaus in der Klasse und auch ich bin schwer begeistert. Nach dem Unterricht verlassen wir die Schule und gehen fröhlich zum Mittagessen. Das war schon mal ein guter Einstieg.
Nachmittags geht es dann weiter. Der Abendgottesdienst mit der Jugend aus dem Nachbarort ist wieder sehr voll. Ich wurde vom Veranstalter angefragt, die Predigt zu halten, und das mache ich sehr gern. Auch wenn das aus meinem Mund komisch klingt, es ist für so einen kleinen Ort immer ein Ereignis, wenn jemand aus der Hauptstadt anreist, um dort zu predigen. Das zieht mehr Leute an und die Erwartungen sind dementsprechend groß. Trotzdem ist die Angst sehr viel weniger als sonst. Relativ locker stehe ich vorn und predige zu den jungen Menschen. Später frage ich mich, ob es vielleicht so eine Art Adrenalinspeicher im Körper gibt. Wenn der erst einmal ausgeschüttet ist, braucht es eine Weile, bis sich neues Adrenalin gebildet hat. Vielleicht könnte das eine Lösung für meine Panikattacken sein? Einfach ein paar Stunden vor einer Veranstaltung eine aufregende Sache machen, um das ganze Adrenalin zu verpulvern? Klingt gut, ich werde die Idee weiterverfolgen.
Abends bin ich ganz schön kaputt und schlafe schnell ein. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen bittet mich der Jugendleiter der Gemeinde zu einem besonderen Einsatz. Es geht um einen jungen Mann aus der Gemeinde, der schwer drogenabhängig ist. Wir sollen ihn besuchen und ich soll mit ihm reden. Auf dem Weg dorthin erzählt mir der Leiter, dass die Eltern ihn in der Woche zuvor um Hilfe gebeten hätten. Der Junge verschanze sich tagsüber seit Wochen in seinem Zimmer. Nur nachts gehe er raus, um sich neue Drogen zu beschaffen. Sie wüssten einfach nicht mehr weiter und hätten den Pastor immer wieder um Rat gebeten. Und dieser hat nun mich engagiert, um das Problem zu lösen. Ich empfinde es als eine absolute Überforderung.
Nach einer langen Fahrt kommen wir beim Haus an. Nachdem wir das Auto geparkt haben, betreten wir die Einfahrt, wo wir von den Eltern gleich begrüßt werden. Die Mutter des Jungen macht auf mich einen sehr verzweifelten Eindruck. »Herr Dreyer, Sie müssen uns helfen! Bitte sprechen Sie mit unserem Jungen! Sagen Sie ihm, dass dieser Weg in den Tod führt! Wir wollen unseren Sohn nicht verlieren!« Um ehrlich zu sein, fühle ich mich überrumpelt. Immer wieder begegnen mir in meinem Dienst solche überhöhten Erwartungen. Eltern, die glauben, Martin Dreyer müsste nur einmal mit ihrem Kind reden und anschließend hört dieses sofort auf, Drogen zu nehmen, wird ein ordentlicher Mensch und absolviert im nächsten Jahr sein Abitur mit Auszeichnung. So ein Quatsch. Niemand kann so etwas bewirken und ich erst recht nicht. Weil ich aber zum Dienen nach Schneeberg komme, kann und will ich mich der dringenden Bitte der Eltern nicht entsagen.
Gemeinsam gehen wir die Treppe zum Dachboden hoch, auf dem der Sohn seinen eigenen Wohnbereich von den Eltern bekommen hat. Wir klopfen an die Tür und hören nur ein lautes Klappern und Rascheln. Die Mutter versucht die Tür zu öffnen, aber sie ist abgeschlossen. »Hey! Ich will dir nichts tun! Ich möchte nur mit dir reden!«, rufe ich durch das Schlüsselloch. Keine Antwort. Plötzlich hört man einen Knall, so als würde ein Fenster aufgestoßen werden. Die Mutter öffnet die Tür mit einem Zweitschlüssel, und wir sehen noch den Schatten von ihrem Sohn, wie er aus dem Fenster nach draußen springt. Er landet auf dem Boden und flieht schnellen Schrittes in den umliegenden Wald.
Ich überlege kurz, ob ich ihn jetzt verfolgen sollte. Von der Geschwindigkeit her müsste ich den jungen Mann einholen können mit meinen langen Beinen. Aber ich entscheide mich dagegen. Ich schau mich im Zimmer um. Es beherbergt eigentlich nur eine schwarze Matratze, die auf den Boden liegt und einen kleinen Tisch mit Stuhl. Der Raum ist sehr verdreckt, überall liegen leere Dosen mit ausgedrückten Zigaretten rum. Es riecht nach einem Gemisch aus altem Schweiß und Chemie. Auf dem Tisch kann man eine Menge kleiner Schnipsel von Aluminiumfolie erkennen, die sauber übereinandergelegt sind. Daneben liegt ein kleiner Spiegel zwischen mehreren kurzen Strohhalmen. »Wollen wir vielleicht noch in dem Zimmer beten?«, frage ich die in Tränen aufgelöste Mutter. Sie nickt still. Der Jugendleiter, die Mutter und ich fassen uns an den Händen und beten, was das Zeug hält. »Jesus! Befreie diesen Jungen von seiner Sucht«, bete ich. »Begegne ihm und schenke ihm ein neues Leben!« Nachdenklich fahren wir weiter, um noch rechtzeitig in die Kirche zu kommen. Der Jugendleiter und ich reden die ganze Strecke kein Wort. Vermutlich, weil wir beide etwas ratlos sind.
Der Jugendgottesdienst am Abend ist gut besucht, aber läuft relativ vorhersehbar. Dafür soll es am nächsten Morgen noch einmal zu einem kleinen Aufreger kommen.
Der Abschluss meiner Reise in Schneeberg findet, wie bereits erwähnt, im Sonntagmorgengottesdienst statt. Die einladende Freikirche feiert jeden Sonntag im zweiten Stock eines ehemaligen Wohnhauses ihre Gottesdienste. Überall stehen Stühle im Raum. In der Mitte ist ein langer Gang, der nach vorne zum Rednerpult führt. Dort steht bereits die Band, welche sich mit Schlagzeug, E-Bass und Gitarre auf den Gottesdienst einspielt. Der Raum fasst gut und gern 250 Menschen. Er füllt sich zusehends, selbst im hinteren Bereich der Freikirche gibt es keine Sitzplätze mehr. Nach dem wirklich guten, weil lebendigen Musikteil predige ich über ein neues Thema. Ich lese einen Abschnitt aus der Bibel im Johannesevangelium. Titel meiner Predigt ist: »Anleitung zum Glücklichsein«.
Ganz subjektiv habe ich das Gefühl, dass an diesem Morgen weit mehr von meiner Botschaft ankommt als an den Tagen zuvor. Ich spüre so eine Art Kraftwirkung beim Sprechen und der Aufmerksamkeitslevel scheint extrem hoch zu sein. Und ich habe nur sehr wenig Angst, die Panikattacke ist kaum zu spüren. Vielleicht ist da doch etwas Wahres an der Theorie, dass ein Mensch sein Adrenalin verbrauchen kann und dieses nicht so schnell wieder nachproduziert wird? Es macht mir heute Morgen sogar richtig Freude, mit meinen Worten eine ermutigende Botschaft an die Gemeinde zu richten.
Wenn ich in einer Predigtsituation drin bin und die Angst überwunden ist, erlebe ich das manchmal wie eine Art Rausch. Ich vergesse für eine Zeit, wo ich mich gerade befinde und was ich hier mache. Es zählt nur noch der Augenblick. Die Worte fließen einfach so aus mir heraus und jedes Nicken, jeder anerkennende Blick wirkt wie die Anfeuerungsrufe beim Fußballspiel aus der Westkurve. Auch ohne dabei großartig emotional zu werden, spüre ich, wie eine Energie von meinen Worten ausgeht und diese Energie zurückkommt. Ich empfinde, natürlich ganz subjektiv, dass Gott in diesem Moment sehr stark anwesend ist und dass er mich gebraucht, in dem Maße, wie ich es zulasse. Das ist schön.
Die Predigt verläuft in den folgenden Minuten außerordentlich gut. Viele der Gemeindemitglieder kenne ich ja nun mittlerweile. Ich schaue beim Sprechen in die Runde und nehme wahr, wie mich einige der Christen in Schneeberg freundlich anlächeln. Diese Gemeinde ist tatsächlich schon fast eine Art Familie für mich geworden.