Abteilung G.. Arno Alexander
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„Wer sind Sie?“ fragte William rasch.
„Captain Hearn … das heißt — nein, Inspektor Hearn. Ich war zehn Jahre lang Captain, und ich habe mich an diesen Titel so sehr gewöhnt, daß ich meinen neuen immer wieder vergesse. Man hatte mich zehn Jahre lang übergangen, weil ich alles anders mache als die übrigen und dabei doch zum Ziel komme. Das ist verboten. Machen Sie nie etwas anders als die übrigen. Das ist der Rat eines alten, aber erfahrenen Mannes. Und nun, leben Sie wohl, junger Mann …“
„Entschuldigen Sie, nur noch einen Augenblick“, bat William. „Ich möchte Sie um Rat fragen, um einen Rat bitten …“
„Bitte sehr. Ich bin für alle zu sprechen. Jeden Tag zwischen acht und zwölf Uhr im Hauptquartier der Polizei. Morgen und übermorgen und immer, solange es einen Captain, wollte sagen: Inspektor Hearn gibt.“
„Aber es eilt, es muß gleich sein“, sagte William. „Sonst nützt es mir nichts.“
Der Inspektor sah ihn eine geraume Weile tadelnd an, dann erwiderte er kurz:
„Begleiten Sie mich. Unterwegs können Sie erzählen.“
William schritt neben Hearn einher. Er bemühte sich, kleinere Schritte zu machen, damit der Gegensatz zwischen seinen und denen Hearns nicht so augenfällig würde, aber es wollte ihm nicht gelingen.
„Zum Teufel, so gehen Sie doch, wie Ihnen die Pedale gewachsen sind!“ schalt Hearn plötzlich. „Oder glauben Sie, ich hätte noch nicht bemerkt, daß meine Beine etwas kürzer als Ihre geraten sind? Los! Erzählen Sie!“
„Bei mir ist eingebrochen worden“, stieß William erregt hervor. „Aber es fehlt nichts, sogar das Geld ist da … Und da dachte ich … Da fiel mir ein … Mein Bruder hatte doch ein paarmal ein schmales Aktenheft zu Hause …“
„Ein schmales, blaues Aktenheft mit der Aufschrift — mit Tinte —: dienstlich, streng geheim?“ warf Hearn ruhig dazwischen.
„Die Aufschrift habe ich nicht gelesen, aber so sah das Heft aus. Blau, ja, bestimmt blau. Es ist nicht da. Wenn mein Bruder es nicht in seinem Dienstzimmer gelassen hat, muß es gestohlen worden sein. Oder halten Sie das für unwahrscheinlich?“
„O nein, streng geheime dienstliche Sachen werden sehr oft gestohlen … Übrigens weiß ich, daß Ihr Bruder das Heft heute nachmittag mit nach Hause nahm …“ Hearn blieb plötzlich stehen. „Hier ist eine Fernsprechzelle … Hm … Warten Sie mal einen Augenblick: ich muß mal einem Bekannten guten Abend wünschen.“
„Aber die Sache mit meinem Bruder eilt gewiß sehr …“ widersprach William.
Hearn lächelte.
„Die Sache mit meinem Bekannten eilt auch sehr. Wenn ich ihn nicht gleich anrufe, wird es Nacht. Wie soll ich ihm dann einen guten Abend wünschen?“
Mißmutig sah William zu, wie Hearn in die Zelle trat. Durch die matte Scheibe der Tür konnte er beobachten, wie der kleine Inspektor einen Anschluß herstellte und dann sprach — mit einer aufreizenden Gemütlichkeit sprach. William überlegte, ob er den Inspektor nicht einfach hier stehen lassen und schleunigst zu Jim eilen sollte, aber dann hielt ihn davon doch der Gedanke ab, daß Hearn in diesem Falle sicherlich Wirksameres unternehmen könne als Jim. Verstimmt und ungeduldig lief er vor dem Fernsprechhäuschen auf und ab, und es war ein sehr hörbarer Seufzer der Erleichterung, mit dem er den Inspektor empfing, als die Tür des Häuschens sich endlich öffnete.
„Nun, und was wünschen Sie von mir?“ fragte Hearn sehr vergnügt.
„Ich wollte Sie bitten, mir zu helfen oder zu raten, wie ich etwaige schlimme Folgen dieses Diebstahls verhindern könnte.“
„Hm … Ja … Sehr gern …“ murmelte Hearn nachdenklich. „Aber . . sehen Sie, eine Hand wäscht die andere. Ich will Ihnen helfen, aber Sie müssen dafür auch mir einen Gefallen erweisen.“
„Aber natürlich, Inspektor, wenn ich etwas für Sie tun kann …“
„Wenn Sie es nicht könnten, würde ich mich wohl kaum an Sie wenden. Sehen Sie ein, daß Ihre Rede töricht war?“
„Inspektor, wir haben wirklich keine Zeit, um …“
Hearn blieb stehen.
„Erst sagen Sie mir gefälligst, ob Sie einsehen, wie töricht Ihre Rede war“, beharrte er eigensinnig.
„Sie war unglaublich töricht!“ rief William gereizt. „Aber wir haben Eile, Inspektor, und Sie stehen da …“
„Wenn Sie Ihre Augen aufmachen, werden Sie bemerken, daß ich dicht neben einem Taxi stehe. Wenn ich große Eile habe, bleibe ich immer erst neben einem Taxi stehen, dann steige ich ein und dann …“
William riß den Schlag auf, und Hearn kletterte in den Wagen.
„Wohin?“ fragte der Taxilenker.
„Zum Hafen“, bestimmte Hearn.
„Zum Hafen?“ William sah den Inspektor groß an. „Mr. Hearn, warum denn zum Hafen?“
„Weil die großen europäischen Dampfer meistens im Hafen anlegen.“
„Inspektor, Sie bringen mich zur Verzweiflung! Was in Dreiteufelsnamen gehen mich die großen europäischen Dampfer an?“
Hearn zog seine Uhr.
„Sehr viel, Mr. Elgin. Mit einem dieser Dampfer kommt nämlich heute meine Nichte aus Europa an, und die wollen wir abholen. Das ist es nämlich, wobei Sie mir behilflich sein sollen. Ich bin ja ein reifer, erfahrener Mann — das läßt sich nicht leugnen, nicht wahr? — aber ich habe noch nie mit Nichten zu tun gehabt. Haben Sie Nichten?“
„Nein.“
„Das ist ein beneidenswerter Zustand, Mr. Elgin, ein sehr beneidenswerter! Eine Nichte ist eine große Belastung, besonders für einen Junggesellen und besonders, wenn sie zwanzig Jahre alt und vielleicht auch noch hübsch ist. Aber das letztere ist noch nicht geklärt. Hoffentlich sieht sie wie eine Eule aus.“
„Mr. Hearn, ich bitte um Verzeihung, aber die Sache mit den gestohlenen Papieren eilt doch. Sie wissen es doch: es muß etwas getan werden! Wir können ja nachher ein Dutzend Nichten abholen, aber erst …“
„Es muß etwas getan werden!“ wiederholte Hearn mit seinem dünnen Stimmchen pathetisch. „Ich will Ihnen mal was sagen, junger Mann. Diese Papiere entscheiden über Leben und Tod von vier Männern — von braven, tüchtigen Männern! Die Sache ist viel ernster, als Sie denken …“
„Und da halten Sie hier lange Reden über ganz unnützige Dinge …“
„Sehr richtig: Nichten sind unnützige Dinge!“ rief Hearn munter. „Im übrigen sind Sie viel dusliger, als Sie aussehen. Glauben Sie, ich kutschiere hier mit Ihnen in der Weltgeschichte umher und versäume meine Pflicht? Nee, mein Sohn.