Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
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Marx behandelt freilich eingehend sowohl den Prozeß der Aneignung nichtkapitalistischer Produktionsmittel wie den Prozeß der Verwandlung des Bauerntums in kapitalistisches Proletariat. Das ganze 24. Kapitel im ersten Band des "Kapitals" ist der Schilderung der Entstehung des englischen Proletariats, der agrikolen kapitalistischen Pächterklasse sowie des industriellen Kapitals gewidmet. Eine hervorragende Rolle im letzteren Vorgang spielt in der Marxschen Schilderung die Ausplünderung der Kolonialländer durch das europäische Kapital. Dies alles aber wohlgemerkt nur unter dem Gesichtswinkel der sogenannten "primitiven Akkumulation". Die angegebenen Prozesse illustrieren bei Marx nur die Genesis, die Geburtsstunde des Kapitals, sie bezeichnen die Geburtswehen bei dem Heraustreten der kapitalistischen Produktionsweise aus dem Schoße der feudalen Gesellschaft. Sobald er die theoretische Analyse des Kapitalprozesses gibt - Produktion wie Zirkulation -, kehrt er ständig zu seiner Voraussetzung: allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktion, zurück.
Wir sehen jedoch, daß der Kapitalismus auch in seiner vollen Reife in jeder Beziehung auf die gleichzeitige Existenz nichtkapitalistischer Schichten und Gesellschaften angewiesen ist. Dieses Verhältnis erschöpft sich nicht durch die nackte Frage des Absatzmarktes für das "überschüssige Produkt", wie das Problem von Sismondi und den späteren Kritikern und Zweiflern der kapitalistischen Akkumulation gestellt wurde. Der Akkumulationsprozeß des Kapitals ist durch alle seine Wertbeziehungen und Sachbeziehungen: konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert an nichtkapitalistische Produktionsformen gebunden. Letztere bilden das gegebene historische Milieu jenes Prozesses. Die Kapitalakkumulation kann so wenig unter der Voraussetzung der ausschließlichen und absoluten Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt werden, daß sie vielmehr ohne das nichtkapitalistische Milieu in jeder Hinsicht undenkbar ist. Freilich zeigten Sismondi und seine Nachfolger einen richtigen Instinkt für die Daseinsbedingungen der Akkumulation, wenn sie deren Schwierigkeiten einzig und allein auf die Realisierung des Mehrwerts reduzierten. Zwischen den Bedingungen dieser letzteren und den Bedingungen der Erweiterung des konstanten und des variablen Kapitals in ihrer Sachgestalt besteht ein wichtiger Unterschied. Das Kapital kann ohne die Produktionsmittel und die Arbeitskräfte des gesamten Erdballes nicht auskommen, zur ungehinderten Entfaltung seiner Akkumulationsbewegung braucht es die Naturschätze und die Arbeitskräfte aller Erdstriche. Da diese sich tatsächlich in überwiegender Mehrzahl in den Banden vorkapitalistischer Produktionsformen befinden - dies das geschichtliche Milieu der Kapitalakkumulation -, so ergibt sich daraus der ungestüme Drang des Kapitals, sich jener Erdstriche und Gesellschaften zu bemächtigen. An sich wäre der kapitalistischen Produktion z.B. auch mit kapitalistisch betriebenen Kautschukplantagen, wie sie z.B. in Indien bereits angelegt sind, gedient. Aber die tatsächliche Vorherrschaft nichtkapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse in den Ländern jener Produktionszweige ergibt für das Kapital die Bestrebung, jene Länder und Gesellschaften unter seine Botmäßigkeit zu bringen, wobei die primitiven Verhältnisse allerdings so außerordentlich rasche und gewaltsame Griffe der Akkumulation ermöglichen, wie sie unter rein kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen ganz undenkbar wären.
Anders die Realisierung des Mehrwerts. Diese ist von vornherein an nichtkapitalistische Produzenten und Konsumenten als solche gebunden. Die Existenz nichtkapitalistischer Abnehmer des Mehrwerts ist also direkte Lebensbedingung für das Kapital und seine Akkumulation, insofern also der entscheidende Punkt im Problem der Kapitalakkumulation.
Ob aber so oder anders, faktisch ist die Kapitalakkumulation als geschichtlicher Prozeß in allen ihren Beziehungen auf nichtkapitalistische Gesellschaftsschichten und -formen angewiesen.
Die Lösung des Problems, um das sich die Kontroverse in der Nationalökonomie fast über ein ganzes Jahrhundert zieht, liegt also zwischen den beiden Extremen: zwischen der kleinbürgerlichen Skepsis der Sismondi, v. Kirchmann, Woronzow, Nikolai-on, die die Akkumulation für unmöglich erklärten, und dem rohen Optimismus Ricardo-Say-Tugan-Baranowskis, für die der Kapitalismus sich selbst schrankenlos befruchten kann, ergo - was nur eine logische Konsequenz - von ewiger Dauer ist. Die Lösung liegt, im Sinne der Marxschen Lehre, in dem dialektischen Widerspruch, daß die kapitalistische Akkumulation zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer sozialer Formationen als ihrer Umgebung bedarf, in ständigem Stoffwechsel mit ihnen vorwärtsschreitet und nur so lange existieren kann, als sie dieses Milieu vorfindet.
Von hier aus können die Begriffe des inneren und auswärtigen Absatzmarktes, die im theoretischen Streit um das Problem der Akkumulation eine so hervorragende Rolle gespielt haben, revidiert werden. Innerer und äußerer Markt spielen gewiß eine große und grundverschiedene Rolle im Gang der kapitalistischen Entwicklung, jedoch nicht als Begriffe der politischen Geographie, sondern als die der sozialen Ökonomie. Innerer Markt vom Standpunkt der kapitalistischen Produktion ist kapitalistischer Markt, ist diese Produktion selbst als Abnehmerin ihrer eigenen Produkte und Bezugsquelle ihrer eigenen Produktionselemente. Äußerer Markt für das Kapital ist die nichtkapitalistische soziale Umgebung, die seine Produkte absorbiert und ihm Produktionselemente und Arbeitskräfte liefert. Von diesem Standpunkt, ökonomisch, sind Deutschland und England in ihrem gegenseitigen Warenaustausch füreinander meist innerer, kapitalistischer Markt, während der Austausch zwischen der deutschen Industrie und den deutschen bäuerlichen Konsumenten wie Produzenten für das deutsche Kapital auswärtige Marktbeziehungen darstellt. Wie aus dem Schema der Reproduktion ersichtlich, sind dies strenge, exakte Begriffe. Im innern kapitalistischen Verkehr können im besten Fall nur bestimmte Wertteile des gesellschaftlichen Gesamtprodukts realisiert werden: das verbrauchte konstante Kapital, das variable Kapital und der konsumierte Teil des Mehrwerts; hingegen muß der zur Kapitalisierung bestimmte Teil des Mehrwerts "auswärts" realisiert werden. Ist die Kapitalisierung des Mehrwerts der eigentliche Zweck und das treibende Motiv der Produktion, so ist andererseits die Erneuerung des konstanten und variablen Kapitals (sowie des konsumierten Teils des Mehrwerts) die breite Basis und die Vorbedingung jener. Und wird mit der internationalen Entwicklung des Kapitalismus die Kapitalisierung des Mehrwerts immer dringender und prekärer, so wird die breite Basis des konstanten und variablen Kapitals als Masse absolut und im Verhältnis zum Mehrwert immer gewaltiger.