Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Der Kampf gegen die Naturalwirtschaft
Der Kapitalismus kommt zur Welt und entwickelt sich historisch in einem nichtkapitalistischen sozialen Milieu. In den westeuropäischen Ländern umgibt ihn zuerst das feudale Milieu, aus dessen Schoß er hervorgeht - die Fronwirtschaft auf dem platten Lande, das Zunfthandwerk in der Stadt -, dann, nach Abstreifung des Feudalismus, ein vorwiegend bäuerlich-handwerksmäßiges Milieu, als einfache Warenproduktion in der Landwirtschaft wie im Gewerbe. Außerdem umgibt den europäischen Kapitalismus ein gewaltiges Terrain außereuropäischer Kulturen, welches die ganze Skala von Entwicklungsstufen von den primitivsten kommunistischen Horden wandernder Jäger und Sammler bis zur bäuerlichen und handwerksmäßigen Warenproduktion darbietet. Mitten in diesem Milieu arbeitet sich der Prozeß der Kapitalakkumulation vorwärts.
Es sind dabei drei Phasen zu unterscheiden: der Kampf des Kapitals mit der Naturalwirtschaft, der Kampf mit der Warenwirtschaft und der Konkurrenzkampf des Kapitals auf der Weltbühne um die Reste der Akkumulationsbedingungen.
Der Kapitalismus bedarf zu seiner Existenz und Fortentwicklung nichtkapitalistischer Produktionsformen als seiner Umgebung. Aber nicht mit jeder dieser Formen ist ihm gedient. Er braucht nichtkapitalistische soziale Schichten als Absatzmarkt für seinen Mehrwert, als Bezugsquellen seiner Produktionsmittel und als Reservoirs der Arbeitskräfte für sein Lohnsystem. Zu allen diesen Zwecken kann das Kapital mit naturalwirtschaftlichen Produktionsformen nichts anfangen. In allen naturalwirtschaftlichen Formationen - ob es sich um primitive Bauerngemeinden mit Gemeineigentum an Grund und Boden, feudale Fronverhältnisse oder dergleichen handelt - ist die Produktion für den Selbstbedarf das Ausschlaggebende der Wirtschaft, daher kein oder geringer Bedarf nach fremden Waren und in der Regel auch kein Überfluß an eigenen Produkten oder zum mindesten kein dringendes Bedürfnis, überschüssige Produkte loszuwerden. Was das wichtigste jedoch: Alle naturalwirtschaftlichen Produktionsformen beruhen auf dieser oder jener Art Gebundenheit sowohl der Produktionsmittel wie der Arbeitskräfte. Die kommunistische Bauerngemeinde so gut wie der feudale Fronhof und dergleichen stützen sich in ihrer wirtschaftlichen Organisation auf die Fesselung des wichtigsten Produktionsmittels - des Grund und Bodens - sowie der Arbeitskräfte durch Recht und Herkommen. Die Naturalwirtschaft setzt somit den Bedürfnissen des Kapitals in jeder Hinsicht starre Schranken entgegen. Der Kapitalismus führt deshalb vor allem stets und überall einen Vernichtungskampf gegen die Naturalwirtschaft in jeglicher historischer Form, auf die er stößt, gegen die Sklavenwirtschaft, gegen den Feudalismus, gegen den primitiven Kommunismus, gegen die patriarchalische Bauernwirtschaft. In diesem Kampfe bilden politische Gewalt (Revolution, Krieg), staatlicher Steuerdruck und Billigkeit der Waren die Hauptmethoden, die teils nebeneinander laufen, teils einander folgen und sich gegenseitig unterstützen. Äußerte sich die Gewalt im Kampfe gegen den Feudalismus in Europa in revolutionärer Gestalt (die bürgerlichen Revolutionen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts gehören in letzter Linie hierher), so in außereuropäischen Ländern - im Kampfe gegen primitivere soziale Formen - in der Gestalt der Kolonialpolitik. Das hier praktizierte Steuersystem wie der Handel, namentlich mit primitiven Gemeinwesen, stellen ein Gemisch dar, in dem politische Gewalt und ökonomische Faktoren eng ineinandergreifen.
Die ökonomischen Zwecke des Kapitalismus im Kampfe mit naturalwirtschaftlichen Gesellschaften sind im einzelnen:
1. sich wichtiger Quellen von Produktivkräften direkt zu bemächtigen, wie Grund und Boden, Wild der Urwälder, Mineralien, Edelsteine und Erze, Erzeugnisse exotischer Pflanzenwelt, wie Kautschuk usw.;
2. Arbeitskräfte "frei" zu machen und zur Arbeit für das Kapital zu zwingen;
3. die Warenwirtschaft einzuführen;
4. Landwirtschaft von Gewerbe zu trennen.
Bei der primitiven Akkumulation, d.h. in den ersten geschichtlichen Anfängen des Kapitalismus in Europa am Ausgang des Mittelalters und bis ins 19. Jahrhundert hinein, bildete das Bauernlegen in England und auf dem Kontinent das großartigste Mittel zur massenhaften Verwandlung der Produktionsmittel und Arbeitskräfte in Kapital. Indes dieselbe Aufgabe wird bis auf den heutigen Tag durch das herrschende Kapital in ganz anders großartigem Maßstab ausgeführt - in der modernen Kolonialpolitik. Es ist eine Illusion, zu hoffen, der Kapitalismus würde sich je nur mit Produktionsmitteln begnügen, die er auf dem Wege des Warenhandels erstehen kann. Die Schwierigkeit für das Kapital besteht in dieser Hinsicht schon darin, daß auf gewaltigen Strecken der exploitierbaren Erdoberfläche die Produktivkräfte sich im Besitz von gesellschaftlichen Formationen befinden, die entweder zum Warenhandel nicht neigen oder aber gerade die wichtigsten Produktionsmittel, auf die es dem Kapital ankommt, überhaupt nicht feilbieten, weil die Eigentumsformen wie die ganze soziale Struktur dies von vornherein ausschließen. Dahin gehören vor allem Grund und Boden mit dem ganzen Reichtum an mineralischem Gehalt im Innern sowie mit dem Wiesen-, Wälder- und Wasserbestand an der Oberfläche, ferner Viehherden bei viehzüchtenden primitiven Völkern. Sich hier auf den Prozeß der langsamen auf Jahrhunderte berechneten inneren Zersetzung dieser naturalwirtschaftlichen Gebilde verlassen und ihre Resultate erst abwarten, bis sie zur Entäußerung der wichtigsten Produktionsmittel auf dem Wege des Warenhandels führen, würde für das Kapital soviel bedeuten, wie überhaupt auf die Produktivkräfte jener Gebiete verzichten. Daraus folgert der Kapitalismus gegenüber den Kolonialländern die gewaltsame Aneignung der wichtigsten Produktionsmittel als eine Lebensfrage für sich. Da aber gerade die primitiven sozialen Verbände der Eingeborenen der stärkste Schutzwall der Gesellschaft wie ihrer materiellen Existensbasis sind, so erfolgt als einleitende Methode des Kapitals die systematische, planmäßige Zerstörung und Vernichtung der nichtkapitalistischen sozialen Verbände, auf die es in seiner Ausbreitung stößt. Hier haben wir es nicht mehr mit der primitiven Akkumulation zu tun, der Prozeß dauert fort bis auf den heutigen Tag. Jede neue Kolonialerweiterung wird naturgemäß von diesem hartnäckigen Krieg des Kapitals gegen die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge der Eingeborenen begleitet sowie von dem gewaltsamen Raub ihrer Produktionsmittel und ihrer Arbeitskräfte. Die Hoffnung, den Kapitalismus ausschließlich auf den "friedlichen Wettbewerb", d.h. auf den regelrechten Warenhandel, wie er zwischen kapitalistisch produzierenden Ländern geführt wird, als die einzige Grundlage seiner Akkumulation verweisen zu können, beruht auf der doktrinären Täuschung, als ob die Kapitalakkumulation ohne die Produktivkräfte und die Nachfrage primitiverer Gebilde auskommen, sich auf den langsamen inneren Zersetzungsprozeß der Naturalwirtschaft verlassen könnte. Sowenig die Kapitalakkumulation in ihrer sprunghaften Ausdehnungstätigkeit auf den natürlichen Zuwachs der Arbeiterbevölkerung zu warten und mit ihm auszukommen vermag, sowenig wird sie auch die natürliche langsame Zersetzung der nichtkapitalistischen Formen und ihren Übergang zur Warenwirtschaft abwarten und sich mit ihm begnügen. Das Kapital kennt keine andere Lösung der Frage als Gewalt, die eine ständige Methode der Kapitalakkumulation als geschichtlicher Prozeß ist, nicht bloß bei der Genesis, sondern bis auf den heutigen Tag. Für die primitiven Gesellschaften aber gibt es, da es sich in jedem solchen Falle um Sein oder Nichtsein handelt, kein anderes Verhalten als Widerstand und Kampf auf Tod und Leben, bis zur völligen Erschöpfung oder bis zur Ausrottung. Daher die ständige militärische Besetzung der Kolonien, die Aufstände der Eingeborenen und die Kolonialexpeditionen zu ihrer Niederwerfung als permanente Erscheinungen auf der Tagesordnung des Kolonialregimes. Die gewaltsame Methode ist hier die direkte Folge des Zusammenpralls des Kapitalismus mit naturalwirtschaftlichen