Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg

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Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band) - Rosa Luxemburg

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inneren Staatsleben während eines halben Jahrhunderts richtete, und zwar aus dem folgenden klar erkannten Doppelinteresse. Die Vernichtung des Gemeineigentums sollte vor allem die Macht der arabischen Geschlechter als sozialer Verbände zertrümmern und damit ihren hartnäckigen Widerstand gegen das französische Joch brechen, der sich trotz aller Militärübermacht Frankreichs in unaufhörlichen Rebellionen der Stämme kundtat und einen unaufhörlichen Kriegszustand in der Kolonie zur Folge hatte.210 Ferner war der Ruin des Gemeineigentums eine Vorbedingung, um in den wirtschaftlichen Genuß des eroberten Landes zu treten, d.h. den seit einem Jahrtausend von den Arabern besessenen Grund und Boden ihren Händen zu entreißen und in die Hände französischer Kapitalisten zu bringen. Zu diesem Behufe diente vor allem dieselbe uns schon bekannte Fiktion, wonach der gesamte Grund und Boden nach muselmännischem Gesetz Eigentum des jeweiligen Herrschers wäre. Genau wie die Engländer in Britisch-Indien erklärten die Gouverneure Louis-Philippes in Algerien die Existenz eines Gemeineigentums ganzer Geschlechter für eine "Unmöglichkeit" Auf Grund dieser Fiktion wurden die meisten unbebauten Ländereien, namentlich aber die Almenden, Wälder und Wiesen für Staatseigentum erklärt und zu Kolonisationszwecken verwendet. Es kam ein ganzes System der Ansiedelungen, die sog. Cantonnements, auf, bei dem inmitten der Geschlechterländereien französische Kolonisten gesetzt, die Stämme selbst aber auf einem minimalen Gebiet zusammengepfercht werden sollten. Durch Erlasse vom Jahre 1830, 1831,1840, 1844, 1845, 1846 wurden diese Diebstähle an arabischen Geschlechterländereien "gesetzlich" begründet. Dieses Ansiedelungssystem führte aber in Wirklichkeit gar nicht zur Kolonisation, es hat bloß zügellose Spekulation und Wucher großgezogen. Die Araber verstanden in den meisten Fällen, die ihnen weggenommenen Ländereien zurückzukaufen, wobei sie freilich tief in Schulden gerieten. Der französische Steuerdruck wirkte nach derselben Richtung. Namentlich aber hat das Gesetz vom 16. Juni 1851, das alle Forsten zum Staatseigentum erklärte und so 2,4 Millionen Hektar halb Weide, halb Gestrüpp den Eingeborenen stahl, der Viehzucht die Existenzbasis entzogen. Unter dem Platzregen all dieser Gesetze, Ordonnanzen und Maßnahmen entstand in den Eigentumsverhältnissen des Landes eine unbeschreibliche Verwirrung. Zur Ausnutzung der herrschenden fieberhaften Bodenspekulation und in der Hoffnung auf baldige Zurückgewinnung des Bodens veräußerten viele Eingeborene ihre Grundstücke an Franzosen, wobei sie häufig an zwei und drei Käufer zugleich dasselbe Grundstück verkauften, das sich obendrein gar nicht als ihr Eigentum, sondern als unveräußerliches Geschlechtereigentum herausstellte. So glaubte eine Spekulantengesellschaft aus Rouen 20.000 Hektar gekauft zu haben, während sie im Resultat nur 1.370 Hektar strittigen Gebietes ihr eigen nennen durfte. In einem anderen Falle stellte sich ein verkauftes Gebiet von 1.230 Hektar nach der Aufteilung als 2 Hektar aus. Es folgte eine unendliche Reihe von Prozessen, wobei die französischen Gerichte prinzipiell alle Aufteilungen und Ansprüche der Käufer unterstützten. Unsicherheit der Verhältnisse, Spekulation, Wucher und Anarchie wurden allgemein. Aber der Plan der französischen Regierung, sich mitten in der arabischen Bevölkerung eine starke Stütze in einer französischen Kolonistenmasse zu schaffen, hat elend Schiffbruch gelitten. Deshalb nimmt die französische Politik unter dem Zweiten Kaiserreich eine andere Wendung: Die Regierung, die sich nach 30 Jahren hartnäckigen Leugnens des Gemeineigentums in ihrer europäischen Borniertheit eines Besseren hat belehren lassen müssen, erkannte endlich offiziell die Existenz des ungeteilten Geschlechtereigentums an, doch nur, um im gleichen Atem die Notwendigkeit seiner gewaltsamen Aufteilung zu proklamieren. Diesen Doppelsinn hat der Senatuskonsult vom 22. April 1863. "Die Regierung", erklärte General Allard im Staatsrat, "verliert nicht aus dem Auge, daß das allgemeine Ziel ihrer Politik dies ist, den Einfluß der Geschlechtervorsteher zu schwächen und die Geschlechter aufzulösen. Auf diese Weise wird es die letzten Reste des Feudalismus (!) beseitigen, als dessen Verteidiger die Gegner der Regierungsvorlage auftreten. Die Herstellung des Privateigentums, die Ansiedelung europäischer Kolonisten inmitten der arabischen Geschlechter ..., das werden die sichersten Mittel zur Beschleunigung des Auflösungsprozesses der Geschlechtsverbände sein."211 Das Gesetz vom Jahre 1863 schuf zum Zwecke der Aufteilung der Ländereien besondere Kommissionen, die folgendermaßen zusammengesetzt waren: ein Brigadegeneral oder Hauptmann als Vorsitzender, ferner ein Unterpräfekt, ein Beamter der arabischen Militärbehörden und ein Beamter der Domänenverwaltung. Diesen geborenen Kennern wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse Afrikas wurde die dreifache Aufgabe gestellt: erst die Grenzen der Geschlechtergebiete genau abzustecken, dann das Gebiet jedes einzelnen Geschlechts unter seine einzelnen Zweige oder Großfamilien aufzuteilen und endlich auch diese Großfamilienländereien in einzelne Privatparzellen zu zerschlagen. Der Feldzug der Brigadegeneräle ins Innere Algeriens wurde pünktlich ausgeführt, die Kommissionen begaben sich an Ort und Stelle, wobei sie Feldmesser, Landaufteiler und obendrein Richter in allen Landstreitigkeiten in einer Person waren. Der Generalgouverneur von Algerien sollte die Aufteilungspläne in letzter Instanz bestätigen. Nachdem die Kommissionen 10 Jahre lang im Schweiße ihres Angesichts gearbeitet hatten, war das Resultat folgendes: Von 1863 bis 1873 wurden von den 700 arabischen Geschlechtergebieten zirka 400 unter die Großfamilien aufgeteilt. Schon hier wurde zur künftigen Ungleichheit, zum Großgrundbesitz und zur kleinen Parzelle der Grund gelegt. Denn je nach der Größe des Gebietes und der Zahl der Mitglieder eines Geschlechts entfiel pro Mitglied bald 1 bis 4 Hektar, bald 100 und selbst 180 Hektar Land. Die Aufteilung blieb jedoch bei den Großfamilien stehen. Die Aufteilung des Familiengebietes begegnete trotz aller Brigadegeneräle unüberwindlichen Schwierigkeiten in den Sitten der Araber. Der Zweck der französischen Politik: die Schaffung des individuellen Eigentums und dessen Überführung in den Besitz der Franzosen, war also wieder einmal im großen und ganzen gescheitert.

      Erst die Dritte Republik, das unumwundene Regiment der Bourgeoisie, hat den Mut und den Zynismus gefunden, alle Umschweife auf die Seite zu legen und ohne die vorbereitenden Schritte des Zweiten Kaiserreichs die Sache vom anderen Ende anzugreifen. Die direkte Aufteilung der Gebiete aller 700 arabischen Geschlechter in individuelle Anteile, eine parforce Einführung des Privateigentums in kürzester Zeit, das war der offen ausgesprochene Zweck des Gesetzes, den die Nationalversammlung im Jahre 1873 ausgearbeitet hat. Den Vorwand dazu boten die verzweifelten Zustände der Kolonie. Genau wie erst die große Hungersnot in Indien 1866 der Öffentlichkeit in England die schönen Resultate der englischen Kolonialpolitik drastisch vor die Augen geführt und eine parlamentarische Kommission zur Untersuchung der Mißstände veranlaßt hatte, so wurde Europa zu Ende der sechziger Jahre durch den Notschrei aus Algerien alarmiert, wo massenhafte Hungersnot und außerordentliche Sterblichkeit unter den Arabern über 40 Jahre französischer Herrschaft quittierten. Zur Untersuchung der Ursachen und zur Beglückung der Araber durch neue gesetzliche Maßnahmen wurde eine Kommission eingesetzt, die zu dem einstimmigen Beschlusse kam, daß den Arabern als Rettungsanker nur eins helfen könne - das Privateigentum. Dann erst würde nämlich jeder Araber in der Lage sein, sein Grundstück zu verkaufen oder darauf Hypotheken aufzunehmen und sich so vor der Not zu schützen. Um also der Notlage der Araber abzuhelfen, die durch teilweise von den Franzosen bereits ausgeführte Diebereien an algerischem Grund und Boden wie durch die von ihnen geschaffene Steuerlast und damit verbundene Verschuldung der Araber entstanden war, erklärte man als einziges Mittel: die vollständige Auslieferung der Araber in die Krallen des Wuchers. Diese Possenreißerei wurde vor der Nationalversammlung mit völlig ernstem Gesicht Vorgetragen und von der würdigen Körperschaft mit ebensolchem Ernst aufgenommen. Die Schamlosigkeit der "Sieger" über die Pariser Kommune feierte Orgien.

      Zwei Argumente dienten besonders in der Nationalversammlung zur Stütze des neuen Gesetzes. Die Araber selbst wünschen dringend die Einführung des Privateigentums, betonten immer wieder die Verteidiger der Regierungsvorlage. In der Tat, sie wünschten es, nämlich die Bodenspekulanten und die Wucherer in Algerien, die ein dringendes Interesse daran hatten, ihre Opfer aus den schützenden Banden der Geschlechter und ihrer Solidarität zu "befreien". Solange nämlich das muselmännische Recht in Algerien galt, fand die Verpfändung des Grund und Bodens an der Nichtveräußerlichkeit des Gentil- und Familienbesitzes eine unüberwindliche Schranke. Erst das Gesetz von 1863 hatte darin eine Bresche geschlagen. Es galt, das Hindernis ganz wegzuräumen, um dem Wucher freien Spielraum zu lassen. Das zweite Argument war ein "wissenschaftliches". Es stammte aus demselben geistigen Arsenal, aus dem der ehrwürdige James Mill

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