Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
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Neben dem Martyrium Britisch-Indiens beansprucht in der kapitalistischen Kolonialwirtschaft die Geschichte der französischen Politik in Algerien einen Ehrenplatz. Als die Franzosen Algerien eroberten, herrschten unter der Masse der arabisch-kabylischen Bevölkerung die uralten sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen, die sich trotz der langen und bewegten Geschichte des Landes bis ins 19. Jahrhundert, ja zum Teil bis heute erhalten haben.
Mochte in den Städten, unter den Mauren und Juden, unter Kaufleuten, Handwerkern und Wucherern Privateigentum herrschen und auf dem flachen Lande bereits große Strecken von der türkischen Vasallenherrschaft her als staatliche Domänen usurpiert sein, immerhin gehörte noch fast die Hälfte des benutzten Landes in ungeteiltem Eigentum den arabisch-kabylischen Stämmen, und hier herrschten noch uralte, patriarchalische Sitten. Dasselbe Nomadenleben, nur dem oberflächlichen Blick unstet und regellos, in Wirklichkeit streng geregelt und höchst eintönig, führte wie seit jeher noch im 19. Jahrhundert viele arabische Geschlechter mit Männern, Weibern und Kindern, mit Herden und Zelten jeden Sommer an den von Meereswinden angefächelten kühleren Küstenteil Tell und jeden Winter wieder in die schützende Wärme der Wüste zurück. Jeder Stamm und jedes Geschlecht hatte seine bestimmten Wanderungsstrecken und bestimmte Sommer- und Winterstationen, wo sie ihre Zelte aufschlugen. Die ackerbautreibenden Araber besaßen das Land gleichfalls vielfach noch im Gemeineigentum der Geschlechter. Und ebenso patriarchalisch nach althergebrachten Regeln lebte die kabylische Großfamilie unter der Leitung ihrer gewählten Oberhäupter.
Die Hauswirtschaft dieses großen Familienkreises war ungeteilt von dem ältesten weiblichen Mitglied geleitet, jedoch gleichfalls auf Grund der Wahl der Familie, oder aber von den Frauen der Reihe nach. Die kabylische Großfamilie, die in dieser Organisation am Saum der afrikanischen Wüste ein eigentümliches Seitenstück zu der berühmten südslawischen "Zadruga" darbot, war Eigentümerin nicht bloß des Grund und Bodens, sondern auch aller Werkzeuge, Waffen und Gelder, die zum Betrieb des Berufs aller Mitglieder erforderlich waren und von ihnen erworben wurden. Als Privateigentum gehörte jedem Mann nur ein Anzug und jeder Frau nur die Kleidungsstücke und die Schmucksachen, die sie als Brautgeschenk erhalten hatte. Alle kostbareren Gewänder aber und Juwelen galten als ungeteiltes Familieneigentum und durften von einzelnen nur mit Einwilligung aller gebraucht werden. War die Familie nicht zu zahlreich, so nahm sie ihre Mahlzeiten an einem gemeinsamen Tische ein, wobei alle Frauen nach der Reihe kochten, die ältesten aber die Verteilung besorgten. War der Kreis der Personen zu groß, dann wurden allmonatlich die Nahrungsmittel vom Vorstand in rohem Zustand bei Beobachtung strenger Gleichheit unter die Einzelfamilien verteilt und von diesen zubereitet. Engste Bande der Solidarität, gegenseitiger Hilfe und Gleichheit umspannten diese Gemeinwesen, und die Patriarchen pflegten sterbend den Söhnen das treue Festhalten am Familienverband als letztes Vermächtnis ans Herz zu legen.209
Schon die türkische Herrschaft, die sich im 16. Jahrhundert in Algerien etablierte, hatte ernste Eingriffe in diese sozialen Verhältnisse gemacht. Freilich war es nur eine später von den Franzosen erfundene Fabel, daß die Türken sämtlichen Grund und Boden für den Fiskus konfisziert hätten. Diese wilde Phantasie, die nur den Europäern einfallen konnte, befand sich im Widerspruch mit der ganzen ökonomischen Grundlage des Islams und seiner Bekenner. Im Gegenteil, die Grundbesitzverhältnisse der Dorfgemeinden und der Großfamilien wurden von den Türken im allgemeinen nicht angetastet. Nur ein großer Teil unbebauter Ländereien wurde von ihnen als Staatsdomäne den Geschlechtern gestohlen und unter den türkischen Lokalverwaltern in Beyliks verwandelt, die zum Teil direkt von Staats wegen mit eingeborenen Arbeitskräften bewirtschaftet, zum Teil gegen Zins oder Naturalleistungen in Pacht gegeben wurden. Daneben benutzten die Türken jede Meuterei der unterworfenen Geschlechter und jede Verwirrung im Lande, um durch umfassende Landkonfiskationen die fiskalischen Besitzungen zu vergrößern und darauf Militärkolonien zu gründen oder die konfiszierten Guter öffentlich zu versteigern, wobei sie meist in die Hände von türkischen und anderen Wucherern gerieten. Um den Konfiskationen und dem Steuerdruck zu entgehen, begaben sich viele Bauern, genau wie in Deutschland im Mittelalter, unter den Schutz der Kirche, die auf diese Weise zum obersten Grundherrn über ansehnliche Strecken Landes wurde. Schließlich stellten die Besitzverhältnisse Algeriens nach all diesen wechselvollen Geschicken zur Zeit der französischen Eroberung das folgende Bild dar: 1.500.000 Hektar Land umfaßten die Domänen, 3.000.000 Hektar unbenutztes Land waren gleichfalls dem Staate unterstellt als "Gemeineigentum aller Rechtgläubigen" (Bled-el-Islam); das Privateigentum umfaßte 3.000.000 Hektar, die sich noch von römischen Zeiten her im Besitze der Berber befanden, und 1.500.000 Hektar, die unter der türkischen Herrschaft in Privathände übergegangen waren. In ungeteiltem Gemeineigentum der arabischen Geschlechter verblieben danach nur noch 5.000.000 Hektar Land. Was die Sahara betrifft, so befanden sich darin zirka 3.000.000 Hektar brauchbaren Landes im Bereiche der Oasen teils in ungeteiltem Großfamilienbesitz, teils in Privatbesitz. Die übrigen 23.000.000 Hektar stellten meist Ödland dar.
Die Franzosen begannen, nachdem sie Algerien in ihre Kolonie verwandelt hatten, mit großem Tamtam ihr Werk der Zivilisierung. War doch Algerien, nachdem es anfangs des 18. Jahrhunderts die Abhängigkeit von der Türkei abgestreift hatte, ein freies Seeräubernest geworden, welches das Mittelmeer unsicher machte und Sklavenhandel mit Christen trieb. Gegen diese Ruchlosigkeiten der Mohammedaner erklärten namentlich Spanien und die nordamerikanische Union, die selbst im Sklavenhandel zu jener Zeit Erkleckliches leisteten, unerbittlichen Krieg. Auch während der Großen Französischen Revolution wurde ein Kreuzzug gegen die Anarchie in Algerien proklamiert. Die Unterwerfung Algeriens durch Frankreich war also unter den Losungen der Bekämpfung der Sklaverei und der Einführung geordneter, zivilisierter Zustände durchgeführt. Die Praxis sollte bald zeigen, was dahinter steckte. In den vierzig Jahren, die seit der Unterwerfung Algeriens verflossen waren, hat bekanntlich kein europäischer Staat so häufigen Wechsel des politischen Systems durchgemacht wie Frankreich. Auf die Restauration war die Julirevolution und das Bürgerkönigtum gefolgt, auf diese die Februarrevolution, die Zweite Republik, das Zweite Kaiserreich, endlich das Debakel des Jahres 1870 und die Dritte Republik. Adel, Hochfinanz, Kleinbürgertum, die breite Schicht der Mittelbourgeoisie lösten einander in der politischen Herrschaft ab. Aber ein ruhender Pol in dieser Erscheinungen Flucht war die Politik Frankreichs in Algerien, die von Anfang bis Ende auf ein und dasselbe Ziel gerichtet war und am Saum der afrikanischen Wüste am besten verriet, daß sich sämtliche Staatsumwälzungen Frankreichs im 19. Jahrhundert um ein und dasselbe Grundinteresse: um die Herrschaft der kapitalistischen Bourgeoisie und ihrer Eigentumsform, drehten.
"Die Ihrem Studium unterbreitete Gesetzesvorlage", sagte der Abgeordnete Humbert am 30. Juni 1873 in der Sitzung der französischen Nationalversammlung als Berichterstatter der Kommission zur Ordnung der Agrarverhältnisse in Algerien, "ist nicht mehr als die Krönung des Gebäudes, dessen Fundament durch eine ganze Reihe von Ordonnanzen, Dekreten, Gesetzen und Senatuskonsulten gelegt war, die alle zusammen und jedes insbesondere ein und dasselbe Ziel verfolgen: die Etablierung des Privateigentums bei den Arabern." Die planmäßige, bewußte Vernichtung und Aufteilung