Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
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Die uralte Wirtschaftsorganisation der Inder - die kommunistische Dorfgemeinde - hatte sich in ihren verschiedenen Formen durch Jahrtausende erhalten und eine lange innere Geschichte durchgemacht, trotz aller Stürme "in den politischen Wolkenregionen". Im 6. Jahrhundert vor der christlichen Ära drangen in das Indusgebiet die Perser und unterwarfen sich einen Teil des Landes. Zwei Jahrhunderte später zogen die Griechen ein und hinterließen als Ableger einer ganz fremden Kultur die alexandrinischen Kolonien. Die wilden Skythen machten eine Invasion ins Land. Jahrhundertelang herrschten die Araber in Indien. Später kamen von den Höhen des Iran die Afghanen, bis auch diese durch den ungestümen Ansturm der Tatarenhorden aus Transoxanien vertrieben wurden. Schrecken und Vernichtung bezeichneten den Weg, auf dem die Mongolen vorüberzogen, ganze Dörfer wurden niedergemetzelt, und die friedlichen Fluren mit den zarten Reishalmen färbten sich purpurn von Strömen vergossenen Blutes. Aber die indische Dorfgemeinde hat alles überdauert. Denn alle mohammedanischen Eroberer, die einander ablösten, ließen schließlich das innere soziale Leben der Bauernmasse und seine überlieferte Struktur unangetastet. Sie setzten bloß in den Provinzen ihre Statthalter ein, die die militärische Organisation überwachten und Abgaben von der Bevölkerung einsammelten. Alle Eroberer gingen auf die Beherrschung und Ausbeutung des Landes aus, keiner hatte ein Interesse daran, dem Volke seine Produktivkräfte zu rauben und seine soziale Organisation zu vernichten. Der Bauer mußte im Reiche des Großmoguls jährlich seinen Tribut in Naturalien an die Fremdherrschaft entrichten, aber er konnte in seinem Dorf ungeschoren leben und auf seiner Sholgura wie seine Urväter Reis bauen. Dann kamen die Engländer, und der Pesthauch der kapitalistischen Zivilisation vollbrachte in kurzer Zeit, was Jahrtausende nicht vermocht und was das Schwert der Nogaier nicht fertiggebracht hatte: die ganze soziale Organisation des Volkes zu zertrümmern. Der Zweck des englischen Kapitals war in letzter Linie, die Existenzbasis selbst der indischen Gemeinde: den Grund und Boden, in die eigene Macht zu kriegen.
Zu diesem Zwecke diente vor allem die bei den europäischen Kolonisatoren seit jeher beliebte Fiktion, wonach alles Land in der Kolonie Eigentum der politischen Herrscher wäre. Die Engländer schenkten nachträglich ganz Indien als Privatbesitz dem Großmogul und seinen Statthaltern, um es als deren "rechtmäßige" Nachfolger zu erben. Die angesehensten Gelehrten der Nationalökonomie, wie James Mill, stützten diese Fiktion diensteifrig mit "wissenschaftlichen" Gründen, so namentlich mit dem famosen Schluß: man müsse annehmen, daß das Grundeigentum in Indien dem Herrscher gehörte, "denn wollten wir annehmen, daß nicht er der Grundeigentümer war, so wären wir nicht imstande zu sagen: Wer war denn Bjgentümer?"202 Demgemäß verwandelten die Engländer schon 1793 in Bengalen alle Samindars, d.h. die vorgefundenen mohammedanischen Steuerpächter oder auch die erblichen Marktvorsteher in ihren Bezirken in Grundbesitzer dieser Bezirke, um sich auf diese Weise einen starken Anhang im Lande bei ihrem Feldzuge gegen die Bauernmasse zu schaffen. Genauso verfuhren sie auch später bei neuen Eroberungen, in der Provinz Agra, in Audh, in den Zentralprovinzen. Die Folge war eine Reihe von stürmischen Bauernaufständen, bei denen die Steuereinnehmer häufig vertrieben wurden. In der allgemeinen Verwirrung und Anarchie, die dabei entstand, wußten englische Kapitalisten einen ansehnlichen Teil der Ländereien in ihre Hände zu bringen.
Ferner wurde die Steuerlast so rücksichtslos erhöht, daß sie fast die gesamte Frucht der Arbeit der Bevölkerung verschlang. Es kam so weit, daß (nach dem offiziellen Zeugnis der englischen Steuerbehörde aus dem Jahre 1854) in den Distrikten Delhi und Allahabad die Bauern es vorteilhaft fanden, ihre Landanteile lediglich gegen die als Steuer auf sie entfallende Summe zu verpachten und zu verpfänden. Auf dem Boden dieses Steuersystems zog der Wucher in das indische Dorf ein und setzte sich in ihm fest, wie ein Krebs von innen die soziale Organisation zerfressend.203 Zur Beschleunigung des Prozesses führten die Engländer ein Gesetz ein, das allen Traditionen und Rechtsbegriffen der Dorfgemeinde ins Gesicht schlug: die zwangsweise Veräußerlichkeit der Dorffelder wegen Steuerrückständen. Der alte Geschlechtsverband suchte sich dagegen vergeblich durch das Vorkaufsrecht der Gesamtmark und der verwandten Marken zu schützen. Die Auflösung war im vollen Gange. Zwangsversteigerungen, Austritte einzelner aus der Mark, Verschuldung und Enteignung der Bauern waren an der Tagesordnung.
Die Engländer suchten sich dabei, wie es ihre Taktik in den Kolonien stets war, den Anschein zu geben, als sei ihre Gewaltpolitik, die völlige Unsicherheit der Grundbesitzverhältnisse und den Zusammenbruch der Bauernwirtschaft der Hindus herbeigeführt hatte, gerade im Interesse des Bauerntums und zu seinem Schutze gegen die eingeborenen Tyrannen und Ausbeuter notwendig gewesen.204 Erst schuf England künstlich eine Landaristokratie in Indien auf Kosten uralter Eigentumsrechte der Bauerngemeinden, um hinterdrein die Bauern gegen diese Bedrücker zu schützen und das "widerrechtlich usurpierte Land" in die Hände englischer Kapitalisten zu bringen.
So entstand in Indien in kurzer Zeit der Großgrundbesitz, während die Bauern auf enormen Strecken in eine verarmte, proletarisierte Masse kleiner Pächter mit kurzen Pachtfristen verwandelt wurden.
Endlich kam noch in einem markanten Umstand die spezifische Kapitalmethode der Kolonisation zum Ausdruck. Die Engländer waren die ersten Eroberer Indiens, die eine rohe Gleichgültigkeit für die öffentlichen Kulturwerke wirtschaftlichen Charakters mitbrachten. Araber, Afghanen wie Mongolen leiteten und unterstützten in Indien großartige Kanalanlagen, durchzogen das Land mit Straßen, überspannten Flüsse mit Brücken, ließen wasserspendende Brunnen graben. Der Ahne der Mongolendynastie in Indien, Timur oder Tamerlan, trug Sorge für die Bodenkultur, Bewässerung, Sicherheit der Wege und Verpflegung der Reisenden.205 "Die primitiven Radschas Indiens, die afghanischen oder mongolischen Eroberer, zuweilen grausam für die Individuen, bezeichneten wenigstens ihre Herrschaft durch jene wunderbaren Konstruktionen, die man heute auf jedem Schritt findet und die das Werk einer Rasse von Riesen zu sein scheinen ... Die Kompanie (die englische Ostindische Kompanie, die bis 1858 in Indien herrschte - R. L.) hat nicht eine Quelle geöffnet, nicht einen Brunnen gegraben, nicht einen Kanal gebaut, nicht eine Brücke zum Nutzen der Inder errichtet."206
Ein anderer Zeuge, der Engländer James Wilson, sagt: "In der Provinz von Madras wird jedermann unwillkürlich durch die grandiosen altertümlichen Bewässerungsanlagen frappiert, deren Spuren sich bis auf unsere Zeit erhalten haben. Stausysteme die die Flüsse stauten, bildeten ganze Seen, aus denen Kanäle auf 60 und 70 Meilen im Umkreis Wasser verbreiteten. Auf großen Flüssen gab es solcher Schleusen 30-40 Stück ... Das Regenwasser, das von den Bergen hinabfloß, wurde in besonders zu diesem Behufe gebauten Teichen gesammelt, von denen viele bis jetzt 15 bis 25 Meilen im Umkreis haben. Diese gigantischen Konstruktionen waren fast alle vor dem Jahre 1750 vollendet. In der Epoche der Kriege der Kompanie mit den mongolischen Herrschern und, wir müssen hinzufügen, während der ganzen Periode unserer Herrschaft in Indien sind sie in großen Verfall geraten."207
Ganz natürlich: Für das englische Kapital kam es nicht darauf an, die indischen Gemeinwesen lebensfähig zu erhalten und wirtschaftlich zu stützen, sondern im Gegenteil, sie zu zerstören, ihnen die Produktivkräfte zu entreißen. Die rasch zugreifende ungestüme Gier der Akkumulation, die ihrem ganzen Wesen nach von "Konjunkturen" lebt und nicht an den morgigen Tag zu denken imstande ist, kann den Wert der alten wirtschaftlichen Kulturwerke von weitsichtigerem Standpunkt nicht einschätzen.