Der Moloch. Jakob Wassermann
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Arnold war von der Leiter gestiegen. Gleichmütig stiess er mit dem Fuss das Stroh aus dem Weg und wandte sich zum Gartentor, da er dort einen Mann stehen sah, der ein junges Mädchen an der Hand führte. Als er näher kam, erkannte er Elasser, den Hausierer. Ängstlich und demütig entblösste der Jude das kahle Haupt und fragte Arnold, ob er Zeugenschaft vor Gericht ablegen wolle gegen Uravar. Trotz seiner Ehrerbietung war er kurz, trotz der süssen Freundlichkeit war in seinen Mienen zu lesen, dass es für den Gebetenen keinen Ausweg gab, als zuzusagen, wenn es so weit kam. Arnold dachte nicht an anderes. Er blickte das Mädchen an, das Elsasser mit sich führte, und der Gegensatz, in dem die winzige Gestalt und die frühreifen Züge standen, erschreckte ihn. „Sag’ dem Herrn Dank, Jutta“, murmelte Elasser und schüttelte den Arm des Mädchens. Die Kleine betrachtete Arnold mit einem prüfenden und furchtsamen Seitenblick. Sie war dreizehn bis vierzehn Jahre alt, und mit ihren schwärmerischen Augen schien sie ermüdet von den Lasten der Generationen, die gleichsam das natürliche Wachstum ihrer Gestalt verhindert hatten.
Am Nachmittag ging Arnold ins Dorf. Gassen und Platz waren vom Kirchweihdunst erfüllt. Aus der ganzen Umgegend waren die Bauern zusammengeströmt. Geschrei und Musik waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Die Wirtsstuben konnten ihre Gäste nicht fassen, die überall im Flur und auf der Gasse hockten, auf Fässern, Blöcken, Ballen und Balken, schrien, spielten, handelten und Lieder johlten. Die Drehorgeln quietschten, die Heringbrater schrien, und Kinder schlüpften wie Eidechsen um die Beine der Erwachsenen. Aus der geöffneten Kirchentür strömte der Weihrauch in den Heringsgestank, und mit bunten Fähnchen und schläfrigem Gesang kam eine Prozession heraus, die sich im Gedränge kaum vorwärtsschieben konnte. Einige in der Nähe bekreuzten sich, knixten und stürzten wieder in den Trubel. Dabei wurde es Abend. Die Menge staute sich immer mehr. Arnold wurde in den Flur des „Goldenen Stern“ gedrückt, wo Tanzmusik erklang. Ein Mann schrie verzweifelt, seine farbigen Ballons waren in die Luft geflogen. Fünf Mägde, Arm in Arm wie Soldaten, schwenkten aus dem Tor und sangen lachend ein Lied. Hinter ihnen stand plötzlich Maxim Specht und winkte Arnold lächelnd zu. Er wollte folgen, aber ein Verkäufer von Zaubertränken versammelte die Zecher um sich, und der Durchgang war versperrt. Als er neben sich blickte, sah er auch den jüdischen Hausierer. Seine traurige Gestalt, das unbewegt demütige Gesicht und die nüchtern und gefasst prüfenden Augen wirkten so befremdlich in dem Haufen, dass Arnold ihn fragte, was er da suche. Elasser gab mechanisch Auskunft, als wenn er bisher mit niemandem hätte über etwas sprechen können, was ihn sehr zu bedrücken schien. Seine Tochter Jutta sei vom Hause weg, erzählte er mit einer fast geschäftlichen Freundlichkeit. Seit er vom Hof des gnädigen Herrn Ansorge zurückgekommen, sei sie verschwunden. Am Sonntag helfe sie manchmal beim Wirt Gläser spülen, aber sie sei nicht da. Wunderlich genug, dass Arnold auf einmal Sorge um das gesuchte Mädchen empfand, als ob er sich hier an Menschliches klammern müsse, wo er nur betrunkene Tiere sah. Er wurde nachdenklich und sah diese winzige Jutta irgendwo im Wald verirrt. Er wollte Fragen, aber Elasser war schon fortgedrängt, und Arnold befand sich neben der Saaltüre, dicht neben Specht und Beate. Specht fasste ihn sofort unter und fragte ihn vertraulich, wie es gehe. Verlegen zuckte Arnold die Achseln, denn er fand keinen Tonfall gegenüber dieser unerwarteten Liebenswürdigkeit. Neugierig sah er auf die Füsse der Tanzenden, denn die plumpen, gespreizten, lächerlichen und wilden Bewegungen reizten immer seine Schausust. Oben auf einer Estrade hockten wie Kobolde die Musikanten, durch den Dunst halb verwischt. Beate wandte sich erhitzt mit derselben unerklärlichen Vertraulichkeit, aber mit einem geheimnisvoll tückischen Glanz in den Augen zu Arnold und fragte, ob er denn nie beim Jahrmarkt gewesen sei, weil er so erstaunt starre. Auch die Schnelligkeit und falsche Heiterkeit, mit der sie redete, hatten etwas Unerklärliches. „O ja,“ antwortete Arnold gelassen, „aber ich habs vergessen.“ In der Tat, für ihn war ein Jahr eine unübersehbare Spanne Zeit.
Beate tanzte mit einem Bauernburschen von riesenhaftem Wuchs davon. Der heisse Saal mit seinen trüben Lichtern glich einer kleinen Hölle. Bald schien es Arnold, als drehten sich die Wände statt der Menschen. Er stand am Schanktisch, konnte weder vor- noch rückwärts, blickte zwischen Köpfen hinweg, über zuckende Schultern in den Dampf. Die Wirtin stellte Bier vor ihn hin; er hatte Durst, zahlte und trank. Er sah Beate vorbeifliegen, und ihre Röcke wehten. Der Bauer schien sie zu tragen, und seine grossen Stiefel polterten vernehmbar vor allen. Dann standen auf einmal wieder sie und der Lehrer dicht vor ihm. Beide sahen ihn nicht. Specht hatte das Mädchen am Oberarm gefasst und knirschte etwas durch die Zähne. Seine Unterlippe bewegte sich leidenschaftlich. Beate antwortete ihm mit einem langen Blick, der zugleich nachlässig, verliebt, unentschieden und von äusserster Wildheit war. Ihre Haare klebten an der Stirn, ihre Halsader pochte, ihre Ohren waren purpurrot, das Gesicht blass. Zwei betrunkene Bauern, die tschechisch lallten, verbeckten gleich darauf die beiden für Arnolds Blicke. Er drängte sich zur Türe durch. Er war schon im Freien, als er eine Stimme hinter sich vernahm. Es war Specht, der seinen Arm abermals in den Arnolds schob und höflich bat, mitgehen zu dürfen. Arnold wusste nichts zu entgegnen. Die Welt ist für jedermanns Füsse, dachte er. Er hörte den Lehrer keuchen von der Anstrengung des Nachlaufens.
„Bleiben wir doch noch zusammen“, bat Specht wiederum. „Ich möchte nicht gern allein sein. Es ist erst sieben Uhr, und wir könnten ganz gut noch einen Spaziergang machen.“
Arnold nickte, halb neugierig, halb gleichgültig. Bald hatten sie den Lärm hinter sich. Trotz der Dunkelheit war der Weg deutlich, denn der Viertelsmond stand im Westen. Der Frieden der Felder schien vertausendfacht durch das nun verklungene Marktgetöse.
Siebentes Kapitel
Elende Bauern“, sagte Specht, nachdem sie eine Weile lang schweigend gegangen waren. „An einem einzigen Sonntag werfen sie fort, was sie einen ganzen Sommer lang zusammengescharrt haben.“ Er redete in Wut und Hass und warf irgendeine Anklage, die mit seinen Gefühlen gar nichts zu schaffen hatte, irgendwohin.
Arnold schwieg.
„Und was ist das überhaupt für ein Leben!“ fuhr Specht mit einer verzweifelten Bewegung seines ganzen Körpers fort. „Wer bin ich hier? Was soll ich hier? Lauter Bauern, lauter Dummköpfe! Kein Mensch, mit dem man ein richtiges Gespräch führen kann. Pfui Teufel.“
Er ärgert sich, weil sein Mädchen mit einem andern getanzt hat, dachte Arnold, was macht er solches Wesen davon.
„Ich wundere mich nur, dass Sie’s hier aushalten,“ sagte Specht, „Sie sind doch auch schliesslich nicht auf den Kopf gefallen. Das ist doch keine Existenz für Sie. Sie müssen hinaus in die Welt. Man braucht Männer heutzutage.“
„Mir ist ganz wohl hier“, gab Arnold ruhig zur Antwort.
Das Dorf war längst verschwunden, sie schritten schweigend am Waldrand entlang. Die Wiesen glänzten silbern, Mondnebel erfüllten die Luft. Dicht vor ihnen tauchten die Mauern des Felizianerinnenklosters auf; über dem hohen Tor glänzte ein Kreuz.
„Wir sind sehr weit“, sagte Specht bedenklich. Mit verborgener Bewunderung heftete er den Blick auf Arnold, der ihm gegenüberstand, die Füsse in schreitender Stellung, das Gesicht mit einem Ausdruck des Lauschens emporgewandt, das braune Haar aus der Stirn gestrichen. Die etwas lange, gerade, aber breitrückige Nase verlieh dem Gesicht einen durchaus reifen Charakter.
Der