An neuen Orten. Rainer Bucher
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Bei Zauner ist zu erfahren, dass Klostermann die „Gemeinde“-Idee vom Wiener Hochschulpfarrer Karl Strobl248 (1908-1984) kennen gelernt habe. „Strobl hatte während des Zweiten Weltkrieges katholische Studenten als christliche Gemeinde versammelt, nachdem sämtliche kirchlichen Verbände verboten waren.“ Das entspricht nun tatsächlich ganz dem Innitzerschen Konzept. Zauner weiter: „Nach 1945 setzte man dann vor allem auf die Katholische Aktion. Der Hochschulseelsorger Strobl gründete die Katholische Hochschuljugend als selbständige Gliederung der Katholischen Aktion, beließ jedoch die ‚Gemeinde‘ als Kirche an der Universität.“ Auch das entspricht dem ursprünglichen KA-Konzept.
Klostermann sieht das ursprünglich offenbar anders. „Dem konsequenten Systematiker Klostermann“, so Zauner,
war dies lange ein Dorn im Auge. Er belächelte Strobls Idee der Gemeinde als „protestantisch“. Katholisch seien die Pfarre und die Katholische Aktion. Erst in einem Schiurlaub auf dem Arlberg mit dem damaligen Religionslehrer Günter Rombold249 konnte Klostermann dazu gebracht werden, die Theologie der Gemeinde zu durchdenken. Das Ergebnis war das … „Prinzip Gemeinde“, gewidmet „Der Katholischen Hochschulgemeinde Wien“.250
Offenbar genügten ein Schiurlaub und ein überzeugender Praxisbericht, um ein revolutionäres pastoraltheologisches Konzept zu entwickeln, genauer: um ein bereits vor dem Krieg im Ständestaat versuchsweise propagiertes und in der Wiener Hochschulgemeinde weiter getragenes pastorales Konzept wieder aufzugreifen. Vielleicht ist ja tatsächlich Kardinal Innitzers Konzept „KA und Pfarrgemeinde“ in der Perspektive einer gemeinschaftsorientierten Aktivierung konsequenter als Klostermanns ursprüngliches Programm „KA und Pfarre“, das letztlich Kardinal Piffls minimalistischer Rezeption des päpstlichen KA-Konzepts entsprach. Die Wiener Hochschulgemeinde und deren Leiter Karl Strobl verkörpern offenbar die Kontinuitätsschiene, über welche die Gemeindetheologie 1935 den Vater der Gemeindetheologie 1970 erreichte. Historisch gesehen dürfte gelten: Die katholische Gemeindetheologie entstand im Umfeld der österreichischen Katholischen Aktion und des katholisch dominierten Ständestaates, überlebte in der Wiener Hochschulgemeinde unter Karl Strobl, gelangte schließlich zu Ferdinand Klostermann und wurde von diesem ausgesprochen erfolgreich in den nach-vatikanischen pastoraltheologischen Diskurs eingespeist.
4.2 Funktionen
Die gemeindetheologischen Ansätze von 1935 und 1970 ähneln sich, unterscheiden sich freilich auch. Beide gehen von einer bislang defizitären kirchlichen Reaktion auf die Säkularisierungsprozesse ihrer jeweiligen Gegenwart aus. Beide versuchen, angesichts des „mitten im Herzen des entchristlichten, um nicht zu sagen entgotteten Abendlandes“, so wie bereits zitiert Kardinal Innitzer 1935 (!), die katholische Großkirche an ihrer Basis gemeinschaftsorientiert zu reformatieren, und beide laden dazu die eher formale kirchenrechtliche Größe „Pfarre“ mit gemeinschaftsnahen Kategorien auf: unter dem Begriff „Pfarrgemeinde“ 1935, unter dem Begriff „Gemeinde“ 1970. Sie gleichen sich auch in der Dualität von Emanzipationspathos der Laien und unangetasteter Leitungsgewalt der Priester.
Die beiden gemeindetheologischen Ansätze unterscheiden sich aber darin, wie diese unangetastete Leitungsgewalt dann konkret gedacht wird. 1935 geschieht dies zeittypisch mit anti-liberaler Stoßrichtung in Kategorien von Über- und Unterordnung und konkret gefasst in der Führerkategorie. 1970 wird diese unangetastete „Letztverantwortung“ des Klerus dann demokratiekompatibler eher in familiaristisch-paternalistischen Kategorien wie „Pfarrfamilie“, „brüderliche Leitung“ und „Einmütigkeit“ gefasst.
Damit wird auch die zentrale Diskontinuität erkennbar, die mit den beiden Jahreszahlen 1970 und 1935 benannt werden kann: Sie liegt im völlig gewandelten politischen und kulturellen Kontext. Wurde die „Gemeindetheologie 1935“ zu Beginn des autoritären österreichischen Ständestaates vorgelegt, so die „Gemeindetheologie 1970“ in der nachkonziliaren Aufbruchsphase und zudem auch unmittelbar nach jenem westeuropäischen und US-amerikanischen Kulturumbruch und Demokratisierungsschub, den man gewöhnlich mit der Chiffre „1968“ umschreibt. Führerideologie und anti-demokratisches Ordnungsdenken waren damit natürlich obsolet geworden, die „Gemeindetheologie 1970“ galt ja auch eher als „progressives“, weil tendenziell egalitäres innerkirchliches Konzept. Umgekehrt stellt sich dann aber die Frage, inwiefern fast identische Konzepte in solch radikal unterschiedlichen zeithistorischen Kontexten entwickelt, präsentiert, attraktiv und zumindest partiell auch erfolgreich werden konnten. Welche Funktion erfüllten diese gemeindetheologischen Diskurse in der jeweiligen kirchlichen Lage? Was war 1935 wie 1970 so attraktiv an diesem Konzept?
Michel Foucault hat bekanntlich dem Christentum zugesprochen, nicht nur eine völlig neue Konzeption von Moral in die Weltgeschichte eingespeist zu haben, sondern mit der „pastoralmacht auch eine völlig neue Form religiöser Organisation.
Sie ist selbstlos, im Unterschied zur Königsmacht, sie ist individualisierend, im Kontrast zur juridischen Macht, und sie ist totalisierend, im Unterschied zur antiken Machtausübung. Sie bezieht sich mithin auf alles im Leben und auf das ganze Leben. Ihr zentrales Bild ist tatsächlich der Hirte, der bereit sein muss, sein Leben einzusetzen für die Schafe, ein Hirt, der jedes Einzelne der Schafe im Auge haben muss und daher den Verirrten nachgeht und den alles an jedem Schaf interessiert. Der Beichtstuhl ist daher für die Pastoralmacht mindestens so wichtig wie der Altar: Im katholisch-autoritären Ständestaat bestand denn auch die Pflicht, den jährlichen Beichtzettel beim Arbeitgeber abzugeben.
Pastoralmacht ist nach Foucault also individualisierend, totalisierend und zumindest dem Anspruch nach selbstlos. Betrachtet man beide Gemeindetheologien, jene von 1935 wie jene von 1970, als Versuch, die verlorenzugehen drohende kirchliche Pastoralmacht zu sichern bzw. wiederzugewinnen – und die beide Entwürfe begleitenden Krisenanalysen legen das nahe –, dann zeigt sich, dass beide darin übereinstimmen, den sich lockernden Zugriff der Kirche auf den Einzelnen durch den Aufbau spezifischer, kommunikativ verdichteter sozialer Räume wieder verstärken zu wollen. Sie unterscheiden sich freilich im Zugang zu dieser Lösung, näherhin in der Gewichtung von Individualisierung und Totalisierung. Die Gemeindetheologie propagiert sich 1935 vor allem als zeitgewünschte Totalisierung des kirchlichen Zugriffs, die Gemeindetheologie 1970 primär als ebenso zeitgewünschte Individualisierung dieses Zugriffs.
Die gemeindliche Gemeinschaftlichkeit dient in der Gemeindetheologie 1935 vor allem dazu, alle in allen ihren Lebensbezügen zu erreichen, also die Totalität des Zugriffs zu garantieren. Man denke an Innitzers Satz, es ginge „um nichts mehr und nichts weniger, als dass die Kirche sich anschickt, ihren Totalitätsanspruch … wieder und mit allem Nachdruck zu stellen.“251 Der zeittypische Hintergrund ist unmittelbar greifbar: Immerhin forderte der Professor für Dogmatik an der Theologischen Hochschule von Stift St. Florian in Oberösterreich, Dr. Alois Nikolussi (1890-1965), auf der Wiener Seelsorgertagung 1935 auch, man müsse
das Wir-Gefühl von der staatlich-politischen in die kirchlich-religiöse Sphäre hinüberleiten, wo es ja wirklich am