An neuen Orten. Rainer Bucher
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу An neuen Orten - Rainer Bucher страница 35
Im gleichen Aufsatz fällt übrigens auch Nikolussis unvergesslicher Satz: „Es ist katholischer, mit dem Bischof im Irrtum als gegen den Bischof in der Wahrheit zu schreiten“253. Die Gemeindetheologie 1970 aber hatte bei aller totalisierenden Funktion, auch sie wollte „möglichst viele“ in möglichst vielen Lebensbezügen erreichen, vor allem ein individualisierendes Interesse. Der Einzelne sollte wirklich als Einzelner wahrgenommen werden. Es ging darum, jeden auch wirklich zu erreichen, also die Individualität des Zugriffs zu sichern.
Beide Konzepte stehen in der Dualität von Emanzipation und Unterordnung der Laien. Den Vertretern beider Konzepte ist das bewusst. Sie unterscheiden sich freilich darin, wie sie diese Dualität bearbeiten. Die Gemeindetheologie 1935 greift vom Unterordnungspol auf die Einzelnen zu und verspricht im gemeindlichen Gemeinschaftlichkeitskonzept partielle Emanzipationserfahrungen. Die Gemeindetheologie 1970 greift vom Emanzipationspol auf die Einzelnen zu und domestiziert – oder weniger polemisch gesagt – balanciert diese Emanzipationsbewegung mit dem gemeindlichen Gemeinschaftlichkeitskonzept aus, so dass die priesterliche Pastoralmacht nicht nur nicht gefährdet, sondern auf neuer, wohl am besten „familiaristisch“ zu nennender Basis fortführbar wird. Die „Selbstlosigkeit“ des priesterlichen Hirten wird daher 1935 in der Führermetapher, 1970 in der Metapher des gütigen Familienvaters codiert.
Gemeinsam aber ist beiden Gemeindetheologien ein durchgängiger Aktivierungs- und Verlebendigungsgestus, eine anti-volkskirchliche Entdifferenzierungstendenz. Kennt die Volkskirche eine extrem gespreizte und letztlich auch akzeptierte Partizipationsdifferenz von kirchenrechtlich notwendiger Minimalpartizipation bis zu heroischhimmlischen Heroismusanforderungen, wie sie die Heiligen der Zeit repräsentieren (etwa Katharina von Emmerich, die nichts aß und stigmatisiert war, oder der heilige Pfarrer von Ars als Ikone priesterlicher Heiligkeit und Schlichtheit zugleich), so sind Gemeindetheologien eher von einer mediatisierten Normalpartizipation oberhalb des Kirchenrechts, aber unterhalb religiöser Extremismen gekennzeichnet. Gemeindetheologien sind immer auch der Versuch, das Ärgernis zu beseitigen, dass nicht alle Menschen religiöse Virtuosen sind.
5 Das aktuelle Scheitern
Die Gemeindetheologie 1935 war der Versuch, die katholische Kirche als eine amtszentrierte Heilsinstitution autoritär und gleichzeitig kommunitär umzuformatieren. Dieser Versuch scheiterte letztlich mit dem Untergang des österreichischen Ständestaates und wohl auch an der Resistenz des volkskatholischen Milieus gegen allzu forcierte religiöse Aktivierungs- und Partizipationsforderungen.
Die Gemeindetheologie 1970 war der Versuch, in Zeiten der beginnenden Freisetzung zu religiöser Selbstbestimmung auch von Katholikinnen und Katholiken die katholische Kirche von einer amtszentrierten Heilsinstitution zu einer quasi-familiären gemeindlichen Lebensgemeinschaft umzuformatieren. Dieser Versuch scheiterte an seinem Charakter als halbierte, ja selbstwidersprüchliche Modernisierung, einem Widerspruch, wie er etwa schon in Klostermanns Doppelziel von Intensivierung und Expansion zum Ausdruck kommt. Die internen Widersprüchlichkeiten des gemeindetheologischen Konzepts sind denn auch unübersehbar: Die gemeindetheologische Modernisierung der Nachkonzilszeit wollte freigeben („mündiger Christ“) und gleichzeitig wieder in der „Pfarrfamilie“ eingemeinden. Sie wollte Priester und Laien in ein neues gleichstufiges Verhältnis bringen – bei undiskutierbarem Leitungsmonopol des priesterlichen Gemeindeleiters. Sie wollte eine Freiwilligengemeinschaft sein, die aber auf ein spezifisches Territorium bezogen sein sollte,254 sie wollte für alle da sein, war es aber doch für immer weniger, und wurde immer mehr, wie Rolf Zerfaß und Klaus Ross früh schon bemerkten, ein „Ort beharrlichen Kreisens um sich selber, um den Kirchturm, das Pfarrfest und die wenigen Personen, die derzeit (und wie lange schon?) im Pfarrgemeinderat das Sagen haben“255. Zudem wurden die ehemals extrem aufgespannten Partizipationsgrade an Kirche auf das berühmte „aktive Gemeindemitglied“ hin mediatisiert und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als auch die Katholiken und Katholikinnen die Lizenz zu bindungsfreier religiöser Praxis bekamen.
Aus den inneren Selbstwidersprüchlichkeiten der Gemeindetheologie 1970 entwickelten sich denn auch ihre äußeren Paradoxien: Die Gemeinde sollte das Leben in Christus vermitteln und musste doch offenbar selbst ständig „verlebendigt“ werden, sie war auch in ihrem eigenen Selbstverständnis kein Selbstzweck, zog aber alle Bemühungen und Initiativen auf sich, sie war plötzlich die „Summe und Pointe aller Pastoral“256, und doch expandierten die nicht-gemeindlichen Handlungssektoren der Kirche, also Diakonie, Kategorialpastoral oder Bildungsarbeit, weit stärker.
Die Gemeindetheologie 1970 formulierte ein spezifisches innerkirchliches sozialtechnologisches Projekt. Sie versprach Vergemeinschaftung jenseits der Repression einer unverlassbaren Schicksalsgemeinschaft und doch diesseits der unheimlichen und ungebändigten Freiheit des Einzelnen. Deshalb thematisiert die Gemeindetheologie auch primär Sozialformen, nicht aber pastorale Inhalte. Die werden auch in der Gemeindetheologie immer noch mit einer gewissen Selbstverständlichkeitsaura umgeben, mag diese Selbstverständlichkeit, etwa in der Sakramentenpastoral, auch nach und nach noch so hinfällig geworden sein. Ähnlich wie beim Papsttum soll über eine institutionelle Struktur gesichert werden, was in der liberalen Gesellschaft gefährdet erscheint: die Tradierung des Christlichen.
Der Kern der Selbstwidersprüchlichkeit des gemeindetheologischen Konzepts gründet in seinem ambivalenten Verhältnis zur Freiheit. Diese Ambivalenz aber rührt aus dem Status der Gemeindetheologie als kriseninduziertem Rettungsprogramm. Und wieder gilt: Ähnlich wie das Papsttum im späten 19. Jahrhundert, und daher auch ähnlich emotional aufgeladen, zog die Gemeindetheologie enorme Rettungsphantasien einer durch die moderne liberale Gesellschaft und ihre ganz anderen Lebensstile unter Druck geratenen Kirche auf sich – wenn auch diesmal bei den eher modernitätsfreundlichen Teilen der Kirche. In einem kommt sie mit der forcierten Papstkirche der Pianischen Epoche überein: Durch Aufbau, Ausbau und theologische Unterfütterung einer spezifischen Sozialform von Kirche sollten die freiheitsbedingten Erosionsprozesse kirchlicher Konstitution gestoppt werden. Das aber scheint nicht zu gelingen.
WIDER DEN SANFTEN INSTITUTIONALISMUS DER GEMEINDE
Zur Priorität der Pastoral vor ihren sozialen Organisationsformen
Dass die Gemeinde in einer massiven Krise steckt, ist eigentlich ziemlich klar erkennbar – nicht zuletzt am Erscheinen voluminöser Rettungsversuche257 (Wollbold, Müller). Jede andere Institution hätte aus der Tatsache, dass sie – so in Deutschland – seit 1950 fast 70 Prozent der regelmäßigen Teilnehmer verloren hat, irgendeine institutionelle Konsequenz gezogen. Nicht so, lange, das katholische Pastoralmanagement.
Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn Vertreter der katholischen Pastoraltheologie das, was da offenkundig nicht wie gewünscht funktioniert, weiterhin zur „Summe und Pointe aller Pastoral“258 erklären. Angesichts der Realität ist das mindestens mutig. Es setzt aber vor allem falsche Prioritäten im Grundsatzbereich. Über die aber lohnt sich jede Auseinandersetzung.
1 Der Rückblick: Wie die „Gemeindetheologie“ entstand, und was sie wem versprach
Ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ging es mit der „konstantinischen Formation“ hierzulande endgültig zu Ende. Die Pastoraltheologie hat darauf mit einer ganzen Reihe innovativer pastoraler Konzepte reagiert. Deren folgenreichstes war die Gemeindetheologie. Sie lief darauf hinaus, die auseinander getretenen Größen „kirchliche Sozialform“, „religiöses Sinnsystem“ und „gesellschaftliche Wirklichkeit“ neu zu arrangieren. Näherhin: Kirchliche Sozialform und religiöses Sinnsystem wurden unter dem Gemeindebegriff in ein spezifisches Nahverhältnis