Demokratietheorien. Rieke Trimcev
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Das erste ist doch wohl, daß sie selbst frei sind, daß die Stadt voll Freiheit und Redefreiheit ist, und daß jeder in ihr tun darf, was er will?
„So behauptet man wenigstens“, erwiderte er.
Wo das aber erlaubt ist, da wird sich doch offenbar jeder seine Lebensweise so gestalten, wie es ihm gefällt.
„Das ist klar.“
Unter einer solchen Verfassung, denke ich, wird sich also die größte Mannigfaltigkeit unter den Menschen finden.
„Ohne Zweifel.“
So wird dies wahrscheinlich die schönste von allen Verfassungen sein, fuhr ich fort. Gleich einem bunten Kleid, geziert mit allen Farben, so mag uns auch diese Stadt in der Buntheit aller ihrer Sitten sehr schön erscheinen. Und vermutlich, sagte ich, werden sie auch die meisten für die schönste erklären, wie die Kinder und Weiber, wenn sie etwas buntes sehen.
„Gewiß“, sagte er.
Und es ist auch bequem, du Glücklicher, sich in ihr eine Verfassung auszusuchen, fuhr ich fort.
„Wieso?“
Dank der Freiheit, die in ihr herrscht, enthält sie alle Arten von Verfassungen. Und wer eine Stadt gründen will, wie wir das vorhin taten, der braucht anscheinend nur in eine Demokratie zu gehen und sich dort, wie in einem Trödlerladen mit Verfassungen, das Modell auszusuchen, das ihm zusagt; hat er dann seine Wahl getroffen, so kann er seine Stadt einrichten.
„Vermutlich wäre er da um Muster nicht verlegen“, sagte er.
Daß aber so gar kein Zwang besteht, fuhr ich fort, in dieser Stadt ein Amt zu übernehmen, auch wenn du noch so geschickt dazu bist; daß dich auch niemand zwingt zu gehorchen, wenn du nicht willst; daß du nicht in den Krieg ziehen mußt, wenn Krieg geführt wird; daß du nicht Frieden zu halten brauchst, wenn die anderen ihn halten, falls du kein Bedürfnis nach Frieden hast, und daß du andererseits, wenn dir ein Gesetz verbietet, ein Amt zu bekleiden oder Richter zu sein, nichtsdestoweniger ein Amt bekleiden oder Recht sprechen kannst, wenn du dazu Lust hast – ist ein solches Leben für den Augenblick nicht göttlich und wonnevoll?
„Ja, vielleicht für den Augenblick“, erwiderte er.
Platon: Politeia VIII, 555a-557e. In: Ders.: Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke. 8 Bde. Zürich/München 1974, Bd. IV: Der Staat. Übersetzt von Rudolf Rufener, S. 414-419. © Berlin: De Gruyter, 2011
Interpretation
Der hier abgedruckte Text entstammt dem politikphilosophischen Hauptwerk Platons (427/29-347 v. Chr.), der Politeia – zumeist mit dem anachronistischen und irreführenden Titel „Der Staat“ ins Deutsche übersetzt. Die Polis, Organisationsprinzip und Verwaltungseinheit im antiken Griechenland der archaischen und klassischen Zeit, war kein Staat, da ihr die entscheidenden Wesensmerkmale der so bezeichneten politischen Form fehlten: Souveränität nach innen und nach außen, Konzentration und Verselbstständigung der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt durch stehende Heere und Bürokratie. Im Gegensatz zu dieser neuzeitlichen Organisationsform war die Polis kein verselbstständigter politischer Apparat, sondern die autarke Bürgerschaft, die sich selbst bestimmte und regierte. Dementsprechend befasst sich Platons Politeia nicht mit dem Aufbau und den Strukturen eines hierarchisch geordneten und bürokratisch verwalteten „Staates“, sondern vielmehr mit den Bedingungen und Formen, Institutionen und Normen der bürgerlichen Selbstverwaltung, mit der Verfassung, der Zusammensetzung, den Sitten und Institutionen der antiken Bürgerschaft, die ihre Probleme nicht an einen Staat delegieren konnte, sondern in Eigenregie lösen musste. (Da kein deutsches Synonym existiert, sollte auf eine Übersetzung des Begriffs Polis verzichtet werden.)
Platon wurde ca. 427/29 v. Chr. als Sohn einer aristokratischen Familie in Athen geboren. Er erlebte seine Kindheit und Jugend während des Peloponnesischen Krieges (431-404 v. Chr.) und wurde durch die nicht enden wollenden inneren und äußeren Kämpfe mit den Unwägbarkeiten des Lebens vertraut. Durch seinen Lehrer Sokrates wurde er als junger Mann in die Philosophie eingeführt und zum Nachdenken über die Grundlagen und Formen, Werte und Normen der Ethik und Politik sowie zur kritischen Infragestellung der in der Polis zirkulierenden Meinungen angeregt. Von ihm erlernte er den radikalen Zweifel, der alle seitherigen Gepflogenheiten und Dogmen vor den Gerichtshof der Vernunft zitierte. Durch die mehrfache Verfassungsänderung zwischen 411 und 403 v. Chr., durch die Niederlage und den Zerfall der athenischen Polis wurde er sensibilisiert für die Fragilität und Kontingenz der politischen Institutionen und für die Relativität und Unbeständigkeit der Sitten. Der Prozess gegen Sokrates, der 399 v. Chr. mit der Verurteilung und dem Tod des An geklagten endete, musste das ohnehin vorhandene Misstrauen des jungen Philosophen gegen die Demokratie schüren. Platon zog sich in der Folge enttäuscht aus der politischen Arena zurück und konzentrierte sich mit seinen Schülern auf die geistige Arbeit in der von ihm gegründeten Akademie. Er begann, alle damaligen Wissensgebiete systematisch zu durchdringen, unterzog die Erkenntnisse seiner Vorgänger einer kritischen Revision und entwickelte das erste umfassende und in sich geschlossene philosophische System, das zur Inspirationsquelle und zum permanenten Bezugspunkt der künftigen Philosophie wurde.
In der Entwicklung des platonischen Werkes werden gewöhnlich drei Phasen unterschieden: 1. die frühen Dialoge, die sich vor allem mit ethischen Fragen des richtigen und guten Lebens befassen; 2. die mittleren Dialoge, deren bedeutendster die Politeia ist; 3. die späten Dialoge, in denen die Suche nach dem Guten durch die grundsätzlichere Frage nach dem Sein des Seienden überlagert bzw. verdrängt wird. Es gab seinerzeit keine unproblematischen Anknüpfungspunkte mehr. Man konnte sich auf keine Vorgaben der Tradition stützen, sondern war genötigt, ganz von vorne zu beginnen und neue Fundamente für das Denken zu legen. Vor allem im Bereich der Ethik und Sittlichkeit gab es keine irreversiblen Gewissheiten mehr, vor denen die Skepsis hätte haltmachen können. Die widersprüchlichsten Auffassungen über das richtige Leben standen unvermittelt neben- und gegeneinander. Die Sophisten waren deshalb zu der Einsicht gelangt, dass Aussagen über das Wahre, Gute und Richtige relativ und situationsabhängig sind. Vordringlich war folglich die kritische Durchdringung und Dekonstruktion der kursierenden Meinungen, die auf ihren rationalen Kern zu reduzieren waren. Platon verfasste deshalb Dialoge, in denen zumeist Sokrates der Wortführer ist, der im Gespräch mit wechselnden Partnern das Für und Wider der unterschiedlichen Auffassungen bedenkt, seinen Gesprächspartnern ihre theoretischen Grenzen vorführt, ihre Prämissen verwirrt und sie zu neuem Nachdenken inspiriert, damit sie durch eigene Einsicht zur Erkenntnis des Richtigen und Wahren gelangen. Seine Methode war die Mäeutik. Sokrates führte nach seinem Selbstverständnis das Handwerk seiner Mutter fort, die einst Hebamme gewesen war. Er wollte keine neuen Dogmen und Einsichten verkünden, sondern aus seinen Mitbürgern nur das herauskitzeln, was ohne ihn bereits in ihnen war. In ebendieser Weise erörtert er in Platons Politeia mit seinem Gegenspieler Glaukon die Prinzipien und Erfordernisse eines vernünftigen Lebens und die Funktionen und Probleme der Polis, die seinerzeit ziemlich im Argen lag und eine Totalreform an Haupt und Gliedern nötig hatte.
In den Frühdialogen konzentrierte sich Platon auf die Sitten und Umgangsformen. In einer schroffen Kritik des sophistischen Wahrheits- und Werterelativismus suchte er zu zeigen, dass sich ein „richtiges“, ein vernünftiges und glückliches, ein gerechtes, ehrenwertes und zufriedenes Leben nur führen lässt, wenn man allgemeine Interessen verfolgt und sich um Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit bemüht. Tugend oder Tüchtigkeit (areté) sei aber nur als Einheit aller ihrer einzelnen Momente möglich: als Ganzes aus Tapferkeit (andreía), Besonnenheit (sōphrosýne),