Demokratietheorien. Rieke Trimcev
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Von diesen Beobachtungen ausgehend gelangt Platon zu einer Verfallstheorie bzw. einer Theorie des Verfassungskreislaufs: Der Mensch der Aristokratie sei gut und gerecht (545a), er folge den Gesetzen und bemühe sich um Tüchtigkeit und ein ehrbares Leben. Aus der Aristokratie erwachse die Timokratie, da die nachfolgende Generation der Machthaber die Sitten ihrer Väter missachte und sich in zügelloser Streitlust und Ehrsucht übe. Ihr folgt die Oligarchie, die alle Regierungskompetenzen in den Händen weniger Reicher konzentriert. Ihr Übergang in die Demokratie sei gesetzmäßig und erfolge wegen der Unersättlichkeit des Verlangens nach Reichtum. Es sei offensichtlich, schreibt Platon, „dass man in einer Stadt unmöglich den Reichtum ehren und zugleich Besonnenheit unter den Bürgern erlangen kann. Entweder das eine oder das andere muss man drangeben“ (555c). Wie im obigen Auszug deutlich wird, entstehe eine Demokratie immer dann, wenn die Armen in der Stadt die Oberhand gewinnen und ihre Gegner entweder umbringen oder verbannen, um schließlich die Ämter unter sich zu verlosen (557a). Damit erinnert Platon an den Sturz des Areopags (462/61 v. Chr.) und die Ermordung und Vertreibung der Areopagiten. Die Umwandlung der Demokratie schließlich führe zur Tyrannis (562a ff.), und zwar wegen der übersteigerten Freiheit, die den demokratischen Menschen sich wahllos den wechselnden Begierden hingeben lasse: „Bald berauscht er sich bei Wein und Flötenspiel, dann trinkt er wieder Wasser und magert ab; bald treibt er Gymnastik, dann geht er wieder müßig und kümmert sich um nichts; bald tut er wieder, als beschäftige er sich mit Philosophie; manchmal treibt er Politik, und wenn er aufspringt, redet und handelt er, wie es ihm gerade einfällt“ (561c). Da die Menschen der Demokratie „darin unersättlich und gegen alles andere gleichgültig“ sind, ertöne irgendwann der Ruf nach einer starken Hand, die wieder Ordnung in die aufgewühlte Gesellschaft bringt. Damit schließt sich dann der Kreis. Der Tyrann erzwingt die innere Ruhe, gewöhnt die Bürger wieder an Recht und Ordnung und schafft so die Voraussetzungen für die Rückkehr zur Monarchie bzw. zur gemäßigten Aristokratie usw. Jede Veränderung der Verfassung resultiere daraus, „dass in dem Teile der Bürgerschaft, der die Herrschaft innehat, Uneinigkeit entsteht“ (545c). Der Hauptgrund dafür, dass eine Stadt in Bewegung und Aufruhr gerät, liege in der Entzweiung der Wächter, die sich gegenseitig zu übervorteilen und zu unterjochen suchen (546a ff.).
„Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Städten“, so resümiert der platonische Sokrates, „oder die, die man heute Könige und Machthaber nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn dies nicht in eines zusammenfällt: die Macht in der Stadt und die Philosophie, und all die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, gewaltsam davon ausgeschlossen werden, so wird es, mein lieber Glaukon, mit dem Elend kein Ende haben, nicht für die Städte und auch nicht, meine ich, für das menschliche Geschlecht“ (473d). – Ein solcher Philosophenkönig stand seinerzeit nicht zur Verfügung. Aus diesem Grunde suchte Platon in seinen späten politikphilosophischen Dialogen (Politikos, Nomoi) nach einer zweitbesten Verfassung, die er in der Herrschaft des Gesetzes fand. Weil aber die Gesetze, die durch willkürliche Entscheidungen irgendwelcher Bürgerschaften zustande kommen, selbst problematisch bleiben, unternahm Platon in seinem letzten und umfänglichsten Werk eine eindringliche Untersuchung ebender „Gesetze“, ihres Wesens, ihrer Entstehung und Beschaffenheit, ihrer Wirkung und Notwendigkeit, um gute von schlechten Gesetzen unterscheiden zu können.
Platons Politeia wurde gelegentlich als Utopie und als Chimäre, als müßige Konstruktion des denkenden Kopfes kritisiert, die, wie die Erfahrung lehre, entweder keine Chance auf Verwirklichung habe oder aber, wo sie versucht würde, zwangsläufig zu „totalitären“ Verhältnissen führe. Mit dem zweiten Argument werden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in die Antike rückprojiziert. Das erste brachte bereits Immanuel Kant, außerhalb jeglichen Totalitarismus-Verdachtes stehend, in Rage, der – ähnlich wie später auch Hegel – solchen Feststellungen entgegenhielt, nichts könne „Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten“ (Kritik der reinen Vernunft, A 316/B 372 f.). Legt man die Maßstäbe der heutigen Weltanschauung an, so ist nicht zu leugnen, dass Platons Grundidee – Erziehung der Bürger zu Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit – „antiliberale“ Implikationen und Konsequenzen hat. Der Liberalismus entstand jedoch erst zweitausend Jahre später. Die Ideen der repräsentativen Demokratie und des bürgerlichen Rechtsstaates waren seinerzeit noch nicht entwickelt. Das große Ziel der klassischen griechischen Philosophie war die Krisenbewältigung, die Restitution der zerrütteten Polis und die Wiedergewinnung der zerfallenen Sittlichkeit. Dafür war Platon bereit, autoritäre Einrichtungen und die Aufhebung der Trennung des Öffentlichen und Privaten in Kauf zu nehmen. Auch die familiale Sphäre und das Privatleben der Bürger sollte von den Wächtern kontrolliert werden. Verlangt wurde die bedingungslose Aufopferung der Einzelnen für ihr Gemeinwesen. Jegliche Rückzugsrechte wurden verweigert. Erst der moderne Liberalismus hat die Konsequenzen aus dem Scheitern „erziehungsdiktatorischer“ Konzeptionen gezogen und die Befreiung der Individuen aus holistischen Strukturen gefordert. Es war Adam Smith, der erkannte, dass kein Mensch, weder ein Philosoph noch ein Staatsmann, verbindlich begründen kann, was für jeden Einzelnen das Beste ist. Deshalb sollte es jedem selbst überlassen bleiben, nach welcher Fasson er selig werden möchte. Die Folge war das von Platon konstatierte Überhandnehmen der Freiheit, die alles andere (Tugendhaftigkeit/Tüchtigkeit, Solidarität etc.) neben sich als gleichgültig erscheinen ließ. Da auch diese Entwicklung ungeahnte Risiken und ungewollte Nebenwirkungen mit sich führte, mehren sich heute wieder die Stimmen, die eine Rückbesinnung auf die Grundsätze der antiken Ethik verlangen und den modernen Freiheits- mit dem antiken Gemeinschaftsgedanken konfrontieren (Kommunitarismus, Neoaristotelismus). Der Erste, der in diesem Rahmen versuchte, die allzu rigiden Vorschläge Platons zu mildern und zu korrigieren, war sein Schüler Aristoteles.
→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2036
Aristoteles: Theorie der Mischverfassung
Ausgewählt und interpretiert von Klaus Roth
Politik (ca. 345-325 v. Chr.)
6. Unterschiede der Staatsverfassungen (politeía)
(1. a) Nachdem aber dies festgestellt ist, schließt sich hier zunächst die weitere Untersuchung an, ob man mehrere Verfassungen (politeía) oder nur eine anzunehmen hat, und wenn mehrere, welche dies sind und wieviele und welches ihre Unterschiede sind. Nun ist ja Verfassung die Ordnung (táxis) des Staates (pólis) in bezug auf die Staatsämter (arché) und vor allem in bezug auf das oberste von allen, denn das oberste von allen ist die Regierung (políteuma), und diese wiederum ist die Verfassung. (b) Zum Beispiel in den demokratischen Verfassungen ist das Volk (dêmos) oberste Staatsgewalt, in den Oligarchien dagegen die Wenigen, und eben deshalb nennen wir dort die Verfassung eine andere als hier, und ganz nach demselben Gesichtspunkt werden wir auch über alle anderen Verfassungen urteilen. (c) Demgemäß muß denn nun die Grundlage fürs erste der Zweck ausmachen, um dessentwillen der Staat sich gebildet hat, und sodann die Frage, wieviel Arten des Regierens es für den Menschen und seine Lebensgemeinschaft gibt. Da haben wir aber in den Anfängen unserer ganzen Erörterung, in denen die Bestimmungen über die Hausverwaltung (oikonomía) und das Verhältnis des Herrn zum Sklaven (despoteía) getroffen wurden, auch gesagt, daß der Mensch von Natur ein politisches Lebewesen (zôon politikón) ist. Und aus diesem Grunde treibt