Demokratietheorien. Rieke Trimcev
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Hatte Platon in der Politeia eine auf philosophischer Einsicht basierte vollkommene Stadt konstruiert, die ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Interessen der Einzelnen die Idee des Guten und die Prinzipien der Gerechtigkeit realisiert, so geht Aristoteles aus vom Streben der Menschen nach Glückseligkeit, das nicht einem Höheren untergeordnet, sondern selbst der höchste Lebenszweck ist. Die von den Ideen verbürgte Sicherheit ist entfallen, der Mensch wird nicht mehr von der vorgegebenen Gesamtordnung der Polis behütet, er hat sie in Kooperation mit seinen Mitbürgern selbst hervorzubringen. Demzufolge erhalten die ethischen und dianoetischen, das heißt verstandesmäßigen Tugenden wieder einen anderen, höheren Stellenwert. Sie sind keine Charaktereigenschaft irgendwelcher „Wächter“, sondern müssen von den Bürgern entwickelt werden und zeichnen verantwortlich für das Gelingen der politischen Selbstverwaltung. Während die verstandesmäßigen Tugenden (Wissenschaft, Technik, Einsicht, Klugheit, Vernunft, Weisheit) zum größten Teil durch Belehrung entstehen und wachsen, resultieren die ethischen aus Gewöhnung und Sozialisation (Nikomachische Ethik II.1. 1103a14 ff.). Aristoteles beschränkt sich bei ihrer Analyse nicht auf die vier von Platon erörterten Kardinaltugenden, sondern nimmt das Gesamtspektrum aller möglichen Charaktereigenschaften in den Blick. Er gelangt deshalb zu einer präziseren Beschreibung und bestimmt die erforderlichen Tugenden jeweils als Mittelmaß zwischen zwei Extremen (II, 1104a20 ff.; III, 1115a5 ff.; IV, 1119b21 ff.). Tapferkeit und Besonnenheit werden als rechte Mitte (mesótes) zwischen Tollkühnheit und Feigheit, Zügellosigkeit und Stumpfheit bestimmt, die Freigebigkeit und der Stolz als Mitte zwischen Geiz und Verschwendung bzw. Eitelkeit und Kleinmut, die Sanftmut als „Mitte beim Zorn“ usw. Auch die Gerechtigkeit wird „mesotisiert“ und als Mitte zwischen Unrechttun und Unrechtleiden begriffen (V. 9. 1133b30 ff.). Da diese Bestimmung aber unzureichend bleibt, unternimmt Aristoteles eine gründliche und weit ausgreifende Analyse (V, 1129a3 ff.), die bis heute die ethischen Debatten und den Gerechtigkeitsdiskurs belebt.
Aristoteles begreift den Menschen als zôon lógon echón, als sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen, sowie als zôon politikón, als ein politisches Lebewesen, das seinen Sinn und Zweck (télos) nicht in sich selbst, sondern nur in der Interaktion und Kooperation mit seinesgleichen finden kann (Politik I, 1253a2 f.; III, 1278b19 ff.). Ein sinnerfülltes Leben lässt sich demzufolge nicht durch Rückzug von den anderen führen, sondern nur im Zusammenwirken mit ihnen. Der freie Bürger soll seinen Lebenssinn nicht in der Arbeit (poíesis), der Herstellung von Gütern oder Werken, bzw. in der Akkumulation und Konsumtion von Reichtum und Besitz suchen und finden, sondern einerseits in der Kontemplation, der theoretischen Betrachtung der Welt, andererseits in der Praxis, im kollektiven Handeln, in der Gemeinschaft, der Kommunikation und Interaktion mit anderen, die sich – wie Aristoteles betont – von der Poiesis, dem Herstellen und Machen, dadurch unterscheidet, dass sie ihren Zweck in sich selbst trägt, während jene Ziele verfolgt, die außerhalb der Tätigkeit gelegen sind (Nikomachische Ethik VI, 1139a36 ff., 1140b6). Das politische Engagement, die Mitwirkung an der Selbstverwaltung der Polis und ihren Unterabteilungen, gilt folglich als Selbstzweck und als unverzichtbares Moment eines geglückten oder glücklichen Lebens (Politik VII, 1324a5 ff.).
Die Polis – als agierende und interagierende Bürgerschaft – realisiert bei Aristoteles jene Gesetzesherrschaft oder Nomokratie, die Platon in seinen späten Dialogen, im Politikos und in den Nomoi, begründet hatte. Der Akzent liegt nunmehr eindeutig auf der Ordnung, auf den Ämtern und Institutionen, die dem richtigen und guten Leben dienen sollen. Im Zentrum der Politik steht die Politeía, die Verfassung und die Ämterordnung. Als Bürger gilt jeder, der an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat (Politik III, 1275b18 ff.). Ausgeschlossen bleiben Frauen und Sklaven. Hatte Platon noch die „ökonomische“ Freiheit, den Warentausch und das Privateigentum, aus der guten Polis und der Idee der Gerechtigkeit verbannt, da sie die Gefahr, ja die Notwendigkeit des Betruges in sich birgt, so wirft Aristoteles diesen Begründungszusammenhang über Bord, um zu zeigen, dass es neben der universalen Gerechtigkeit noch partikulare Formen derselben gibt: die distributive (austeilende), die kommutative (ordnende) und die ausgleichende oder wiedervergeltende, kurz: die Tausch-Gerechtigkeit (Nikomachische Ethik V. 4. 1130a15 ff.; Politik I, 1256b40 ff.). In diesem Rahmen entwickelt Aristoteles den Gedanken der Billigkeit (epieíkeia), der auch in heutigen Diskussionen fortwirkt. Zugleich gelangt er zur Idee der Gleichheit, die aber nicht auf die numerische, sondern auf die qualitative Gleichheit der Menschen zielt, die von ihrer jeweiligen Würde und Leistung abhängt. Das Wesen der Gerechtigkeit besteht demnach in der Gleichbehandlung, der Fürsorge und im Sich-Kümmern um die anderen Menschen.
Platons Lehre, wonach das höchste Ziel einer vernünftig eingerichteten Polis die größtmögliche Einheit und deshalb die Weiber- und Kindergemeinschaft nötig sei, wird einer scharfen Kritik unterzogen (Politik II, 1261a10 ff.). Aristoteles insistiert auf der Trennung des Öffentlichen und Privaten. Die Polis dürfe nicht als große Familie bzw. als Haushalt (oîkos) missverstanden werden. Ihr Wesen sei nicht Einheit, sondern Vielheit, sie müsse die Unterschiede zwischen den einzelnen Familien respektieren und dürfe ihre Freiheit nicht beschneiden (II, 1261a16 ff.). Das Endziel der Verfassung sei die Glückseligkeit der Bürger, die in der vollkommenen Verwirklichung und Anwendung der Tugend (areté) besteht (VII, 1332a5 ff.). Die Tugend aber sei bedingt durch die Natur (phýsis), die Gewöhnung (éthos) und die Vernunft (lógos). Zwar sind einzelne zur Tüchtigkeit erforderliche Charaktereigenschaften durch die Erbanlagen festgelegt, doch müssen die meisten erst durch Sozialisation und Lernprozesse aktiv erworben werden. Ihrer Entfaltung hat die Erziehung in der Polis zu dienen (VII, 1332b12 ff.).
Obgleich die Prinzipien seiner Ethik den Gedanken der Demokratie nahe legen, war Aristoteles ein Gegner und Verächter derselben. Ähnlich wie zuvor Platon (Politikos, 291 c ff., 301 a ff., 303 a, b), unterscheidet auch er sechs Regierungsformen, die sich aus der Verdoppelung der traditionellen Trias ergeben. Neben die numerische setzt er eine normative Unterscheidung, indem er Monarchie, Aristokratie und Demokratie nach ihrer Qualität befragt und in sich differenziert (siehe den obigen Auszug). Das Qualitätsmerkmal resultiert aus der Art, wie die Regentschaft jeweils ausgeübt wird. Ist das Tun der Regenten am Gemeinwohl orientiert, so ist die Regierung „gut“. Orientiert sie sich aber nur am eigenen Nutzen der Regenten selbst, so ist sie „schlecht“. Entsprechend ergibt sich folgendes Schema:
gute Formen | schlechte Formen |
Monarchie | Tyrannis |
Aristokratie | Oligarchie |
Politie | Demokratie |
Diese Ordnungen müssen nicht, wie Platon meinte, in einem endlosen Kreislauf ineinander über- oder auseinander hervorgehen. Vielmehr gelangt Aristoteles bei der Analyse der Umwälzungen (metabolé) der Verfassungen (politeía) zu einer Kritik an Platons Verfallstheorie (Politik V,12,1312b11 ff.). Eine Regierungsform verwandelt sich nicht zwangsläufig in die ihr nächstliegende. Sie kann durch alle möglichen abgelöst werden. Die Transformation der Aristokratie in die Oligarchie erfolge ferner nicht dadurch, dass die Regenten geld- und wuchersüchtig werden, sondern weil die Reichen es nicht für richtig halten, dass die Besitzlosen die gleichen politischen