Demokratietheorien. Rieke Trimcev
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Von Demokratie war über lange Zeit nicht mehr die Rede; die Politikdenker der Spätantike und des frühen Mittelalters hatten jedoch andere Probleme zu lösen. Sie schrieben Fürstenspiegel und erörterten das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt. Im christlichen Abendland wurde nach der „Konstantinischen Wende“ (313 n. Chr.) die Vision eines universalen, die Welt umspannenden Reiches leitend, das durch das Miteinander von Kaiser- und Papsttum errichtet werden sollte. Erst infolge der Erschütterung dieser Vorstellung durch die beginnenden Kämpfe zwischen Imperium/Regnum und Sacerdotium und mit dem Aufstieg der oberitalienischen Städte im hohen und späten Mittelalter schien Demokratie wieder denk- und machbar. Die Kaiser sahen sich mit Königen und Fürsten konfrontiert, die in weltlichen Dingen keinen Höheren mehr anerkennen wollten und sich selbst als oberste Gesetzgeber und Richter ihrer Königreiche oder Fürstentümer begriffen. Hinzu kam das Bürgertum der aufstrebenden Städte, das in die laufenden Auseinandersetzungen hineingerissen wurde, für Autonomie und Mitbestimmung in den kommunalen Angelegenheiten kämpfte und sich gegen die Willkür der aristokratischen Mächte, aber auch gegen einzelne Monarchen wehrte. In diesen Auseinandersetzungen wurden die Grundlagen für die neuzeitliche Entwicklung gelegt. In den großen philosophischen Debatten des Spätmittelalters – Aristoteles-Rezeption, Armutsstreit, Universalienstreit – sind theoretische Klärungen erreicht worden, die für die künftige Philosophie bahnbrechend wurden.
Entscheidend für die Entstehung einer autonomen, der Definitionsmacht der Religion entronnenen politischen Theorie wurde die Aristoteles-Rezeption, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts begann. Während Moses Maimonides (1135/38-1204) eine Synthese zwischen jüdischem und aristotelischem Denken erstrebte, die später von Baruch de Spinoza und Moses Mendelssohn (1729-1786) aufgegriffen wurde, gelang Thomas von Aquin (1225-1274) eine Synthese zwischen christlichem und aristotelischem Denken, die zum Ausgangspunkt für die späteren christlichen Aristoteliker Aegidius Romanus, Jean Quidort von Paris, Dante Alighieri, Marsilius von Padua, Wilhelm von Ockham u. a. wurde, die allesamt mit aristotelischen und christlichen Mitteln, rationaler Argumentation und Bibel-Zitaten ihre jeweiligen politischen Optionen begründeten. Zwar führte die Aristoteles-Rezeption nicht unmittelbar zum Postulat der Demokratie, vielmehr ließen sich die unterschiedlichsten Ordnungsvorstellungen in ihrem Gefolge begründen (Pluralität weltlicher Fürstentümer, päpstliche Weltherrschaft, Souveränität der französischen Monarchie, Weltkaisertum etc.), doch lag ihr Gedanke greifbar nahe. Einen ersten Durchbruch erreichte Marsilius von Padua (ca. 1275/80 bis ca. 1342), der die Wege zu einem möglichen Frieden untersuchte und die Chancen der städtischen Selbstverwaltung und der Partizipation der Bürger erörterte. Er begründete die Idee der Volkssouveränität und wurde dadurch zu einem Meilenstein der modernen Demokratietheorie. Mit ihm beginnt deshalb die folgende Präsentation.
Neue Ordnungsideen wurden im 14. und 15. Jahrhundert in Florenz entwickelt, das seine Unabhängigkeit gegen das hegemoniale Bestreben der Visconti verteidigen musste, die seit 1277 Mailand beherrschten, gegen Ende des 14. Jahrhunderts ein Königreich zu errichten strebten und die Autonomie der meisten Städte im Norden und vieler in Mittelitalien beendeten. Italien als Ganzes war seinerzeit durch Parteikämpfe zerrissen. Seit dem Ende der Staufer waren die italienischen Stadtrepubliken in permanente Kriege miteinander verstrickt, aus denen die Pentarchie der fünf großen Signorien oder Principati Florenz, Mailand, Venedig, Rom und Neapel hervorgegangen war. Italien wurde ferner zum Objekt der Begierde der um Vorherrschaft in Europa kämpfenden Großmächte. Die italienischen Städte mussten fürchten, in den Konflikten zwischen Habsburgern, Frankreich und Aragon zerrieben zu werden, und sich folglich nicht nur gegeneinander verteidigen, sondern auch gegen die drohende Fremdherrschaft zur Wehr setzen. Die Sehnsucht nach Frieden, nach Einigkeit und Freiheit Italiens veranlasste die dortigen Humanisten zu radikalen Reflexionen über die Conditio humana und trieb sie auf die Suche nach alternativen Formen der politischen Organisation, die sie – wieder einmal – in der glorreichen Vergangenheit, d. h. in der altrömischen Geschichte vorgebildet fanden. Im Bemühen um Abwehr der Fremdherrschaft und Aufrechterhaltung der republikanischen Ordnung aktualisierten die humanistischen Denker der Frührenaissance in Florenz die antike Partizipations- und Selbstverwaltungsidee.
In allen Feldern von Kunst und Wissenschaft wurde die griechisch-römische Antike zum Orientierungsmuster und gegen die Werte und Prinzipien der jüdisch-christlichen Tradition geltend gemacht. Durch Rückbesinnung auf die griechische Polis bzw. die römische Republik, d. h. auf Aristoteles und/oder Cicero, wurde der Florentiner Republikanismus oder Bürgerhumanismus (Hans Baron) begründet, der die antiken Bürgertugenden beschwor und das Ideal einer sich selbst verwaltenden Gemeinschaft freier, gleicher und wehrhafter Aktivbürger entwickelte. In einer Radikalisierung und Politisierung der humanistischen Positionen Francesco Petrarcas (1304-1374) erinnerten Coluccio Salutati, Leonardo Bruni, Leon Battista Alberti, Matteo Palmieriu. a. an die Sitten der Väter, die einst Roms Größe erwirkten, und begründeten gegen das Einheits- und Hegemoniestreben der Visconti die libertas Italiae, die Freiheit der republikanisch verfassten Stadtstaaten. Sie erneuerten die klassische Überzeugung, die Persönlichkeit des Individuums gelange erst durch die Teilnahme am Leben der polis und res publica zu moralischer und intellektueller Reife, ein vollkommenes Leben bestehe in der Verbindung von intellektueller Muße und ehrenhafter Tätigkeit in einer wohlgeordneten Republik.2 Es entwickelte sich folglich ein ethischpolitischer Diskurs, der dem politischen Engagement der Bürger Eigenwertigkeit zuschrieb. Die politische Ordnung beruht nicht auf göttlicher Gnade, sondern auf der virtù, der Tugend der Bürger, die ihren Lebenssinn einerseits in der Kontemplation, andererseits in der Interaktion mit ihresgleichen suchen. Die Selbstverwirklichung des aus den Banden der Herkunft emanzipierten Individuums kann demnach nur gelingen, wenn es sich als aktiver Teil der Bürgerschaft begreift.
Zwar verblasste der Optimismus im Lauf des 15. Jahrhunderts angesichts des Aufstiegs mächtiger Adelsfamilien, die das politische Leben der Bürgerschaft unterdrückten und die Republik in die Signorie, die monokratische Herrschaft einzelner Männer, transformierten, doch lebte der republikanische Gedanke und der durch ihn entfachte Tugenddiskurs fort. Im 16. Jahrhundert wurde er durch Niccolò Machiavelli (1469-1527) erneuert und zur Inspirationsquelle der englischen, amerikanischen und französischen Revolutionäre.3 Verharrten die frühen Humanisten noch im Rahmen der christlichen Weltanschauung, die sie durch die alten Wertvorstellungen zu erweitern und zu beleben suchten, so betonte Machiavelli die unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Welten, um die Synthese aufzusprengen und der „verweiblichten“ christlichen Ethik die „männliche“ der alten Römer entgegenzustellen, d. h. die Politik aus der religiösen Bevormundung und den von ihr erzeugten Skrupeln zu befreien. Gegen die Maximen der christlichen Sozialethik – Gottes- und Nächstenliebe, Leben in Demut und Bescheidenheit, Barmherzigkeit und Feindesliebe, Verachtung der irdischen Güter, Glaube an ein Leben nach dem Tod usw. – stellte er den heidnischen Wertekanon, der sich auf die Jetztzeit konzentriert und die klassischen Tugenden der Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit sowie vor allem Stärke und Standhaftigkeit, Disziplin und Vaterlandsliebe propagiert. Getrieben von der Sehnsucht nach Vereinigung des zerrissenen und nach Befreiung des von fremden Mächten belagerten Italiens entwarf Machiavelli die Maximen einer