Demokratietheorien. Rieke Trimcev
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Das Mit- und Gegeneinander dieser drei Elemente auf der Basis eines allgemeinen Konsenses über das geltende Recht und das gemeine Wohl (consensus iuris et utilitatis communio) habe Rom zu seiner Blüte geführt [De re publica I, 26-29 (42-45)]. Die egoistischen Bestrebungen der Stände seit der Zeit der Gracchen (133-121 v. Chr.) hätten diese ideelle Grundlage jedoch zerstört und damit den Niedergang und Verfall der Republik eingeleitet, die nunmehr durch Bürgerkriege zerrissen war und im Begriff stand, über die Diktatur Caesars (48-44 v. Chr.) zur Monarchie überzugehen. Das Volk (populus) war nicht mehr durch die Anerkennung des Gesetzes und durch gemeinsame Interessen verbunden, hatte demnach aufgehört, als Volk im Sinne Ciceros zu existieren (siehe den Beginn des obigen Auszugs). Es hatte sich in Parteien und Faktionen zersplittert, die sich aufs heftigste bekämpften. Um den Zerfall der Republik aufzuhalten, beschwor Cicero noch einmal die aristokratischen „Bürger“-Tugenden, den Patriotismus und die Idee der Gerechtigkeit (iustitia). Er begriff die res publica als „Sache des Volkes“ (res populi) und rief zur Eintracht (concordia) und zum gesteigerten Bürgerengagement, zur Disziplin und zur Selbstaufopferung der Einzelnen fürs Gemeinwesen und fürs Vaterland (patria) auf.
Wie einst Platon und Aristoteles, so war auch Cicero kein Anhänger der Demokratie. Er war Verfechter der alten republikanischen Senats- und Optimatenherrschaft, die er als Herrschaft der Besten und Würdigsten begriff. Die Leitung des Gemeinwesens gebühre denen, die durch höhere Einsicht (consilium) und größere Tatkraft (animus) am besten dazu befähigt sind. Die Menschen sollen die ihnen jeweils auferlegten Pflichten erfüllen, wobei sich, wie schon die mittlere Stoa zu zeigen versuchte, der legitime Herrschaftsanspruch der „Besseren“ unmittelbar mit dem Nutzen der Schwachen verbindet [De re publica III, 24 (36)]. Ähnlich wie Sallust (86-35 v. Chr.) erklärte Cicero die Krise der Republik als Folge der nach Karthagos Niederlage einsetzenden moralischen Degeneration, der um sich greifenden Korruption und des damit verknüpften allgemeinen sittlichen Verfallsprozesses. Er bemühte sich deshalb um die Wiedergewinnung der alten Tugenden und Sitten.
Sein großes Ansehen gründete auf seiner Leistung als Rhetoriker, der in Rede und Gegenrede das Für und Wider der unterschiedlichen Auffassungen bedachte und deshalb auch in seinen philosophischen Schriften das Wahre und Richtige – wie zuvor Platon – in Gestalt von Dialogen zu ermitteln suchte. Diese Form ermöglichte es ihm (wie einst schon Herodot), Fürsprecher und Gegner der unterschiedlichen Verfassungen ihre Argumente vortragen zu lassen. Für die Rolle des Apologeten in der „Demokratenrede“ (siehe Auszüge) wählte er, um keinen noch Lebenden zu brüskieren, Scipio Aemilianus Africanus den Jüngeren († 129 v. Chr.), der einst Karthago (146 v. Chr.) und Numantia (133 v. Chr.) bezwungen hatte. Seine beiden – leider nur fragmentarisch überlieferten – politikphilosophischen Hauptwerke, De republica und De legibus, enthalten wertvolle Erläuterungen zum Funktionieren der republikanischen Ordnung und zu den Prinzipien und Techniken der oligarchischen Herrschaft, mit deren Hilfe die Plebs in Schach und von den Schalthebeln der Macht ferngehalten wurde. Ihr philosophischer Wert ist umstritten und wurde in jüngerer Zeit gelegentlich überschätzt.
Ciceros bleibende Leistung war, das römische Politikdenken auf neue, von den Griechen übernommene Grundlagen gestellt zu haben. Den Römern aber bleibt insgesamt das Verdienst, das Recht auf neue Art systematisiert und eine Ämterlaufbahn kreiert zu haben, die in der Nachwelt zahlreiche Bewunderer fand und in modifizierter Gestalt von den modernen Staaten übernommen wurde.
→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2038
Klaus Roth
Einleitung Mittelalter und Frühe Neuzeit
Das Politikdenken der Antike erfuhr einen entscheidenden Bruch mit der Entstehung der großen Reiche, die der griechischen Ausnahme im Kontext der antiken Despotien ein Ende setzten und die autarken Städte absorbierten (Alexanderreich, Diadochenreiche, Römisches Reich). Die Bürger fanden sich nunmehr als Glieder großflächiger Einheiten wieder, die sich durch Unterjochung der kleinen Einheiten konstituierten und institutionell konsolidierten. Die Bürgerschaft wurde anonymisiert, ihre Einheit war nur noch mystisch erfahrbar. Die Angehörigen dieser Riesenreiche kannten sich nicht mehr, waren als Gesamtheit weder durch verwandtschaftliche oder ethnische noch durch politische oder religiöskultische Beziehungen miteinander verbunden, sondern einer ihnen unsichtbaren Macht ausgeliefert, deren Gewalt sie im Akt der Eroberung zu spüren bekommen hatten.
Demokratie war in diesen Imperien undenkbar. Die Städte und Provinzen waren zu Befehlsempfängern der Könige und ihrer Satrapen geworden. Ihre Organisation und Verwaltung lag in den Händen der privilegierten Schichten. Für diejenigen, die keinen Zugang in die Reichsverwaltung oder in den Militärapparat fanden, blieb zunächst nur das eigene Haus, die Familie, die durch Arbeit zu ernähren war. Politik im Sinne der Bürgerbeteiligung an den Entscheidungen der Polis hatte aufgehört zu existieren.
Philosophisch reflektiert sich diese Lage in individualistischen Rückzugskonzeptionen (Hedonismus, Kynismus, Epikureismus, Stoizismus) und in der Wiederbelebung der altorientalischen Reichsidee, der zufolge es die Aufgabe des Königs ist, als unbeschränkter „Herrscher“ (Dominus) Gesetze zu erlassen und ihre Einhaltung zu garantieren und als „guter Hirte“ (Pastor) seine „Herde“ auf den richtigen Weg zu führen. Die entpolitisierte, aus der Reichsgestaltung und -verwaltung ausgeschlossene Bürgerschaft suchte sich aber zugleich neue Sphären der sozialen Interaktion, Räume der Gemeinschaftsbildung, der politischen Betätigung und Selbstverwirklichung. Sie intensivierte die alten und entwickelte neue Formen der Religion und schuf sich dadurch einen Ersatz für die verlorene oder verweigerte Politik.1 Die Reichsverdrossenheit wurde in neuen Kooperationen kompensiert. Unterhalb des politisch-administrativen Apparates wurden neue Formen des Zusammenlebens erprobt, wurden neue Handlungsorientierungen gewonnen, wurde eine neue Sphäre kollektiver Rationalität geschaffen, die den eingetretenen Mangel an Erfahrungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten ausgleichen und ihre Glieder über den erfahrenen Freiheits- und Sinnverlust hinwegtrösten konnte.
Den nötigen Raum boten im Römischen Reich insbesondere die urchristlichen Gemeinden, die sich durch die erfolgreiche Heidenmission des Apostels Paulus von Syrien über Kleinasien, Makedonien und schließlich das ganze Imperium Romanum bis nach Nordafrika ausbreiteten. In religionssoziologischer und religionspolitologischer Sicht erscheinen sie als Gegengründungen zum Imperium Romanum. In ihnen versammelten sich Menschen, die den sozialen und politischen Verhältnissen entfremdet waren, den wirtschaftlichen und rechtlichen, religiösen und kulturellen Ereignissen im Imperium distanziert