Agro-Food Studies. Ernst Langthaler
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Afrikanische Sklaven bei der Arbeit auf einer Zuckerplantage auf der Karibikinsel Antigua 1823 (Wikimedia Commons)
Der atlantische Dreieckshandel umfasste bereits Elemente eines globalen Nahrungsregimes: die Akkumulation von Gewinnen und die Regulation von Warenflüssen – einschließlich der zu ‚Waren‘ degradierten Menschen aus Afrika – zwischen mehreren Kontinenten durch europäische Handelsunternehmen. Doch ein Kernelement fehlte ihm: globale Märkte für Grundnahrungsmittel. Erst Dampfmaschine und Telegraf als Technologien der industriellen Revolution befeuerten ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine Transport- und Kommunikationsrevolution, die die Welt gleichsam schrumpfen ließ (time-space compression; Harvey 1990, 284 ff.). Nun wurde auch der großvolumige Agrarhandel zwischen europäischen Nationalstaaten und davon abhängigen Gebieten in Übersee erschwinglich. Damit entstanden erstmals transkontinentale Märkte für Grundnahrungsmittel. Zwar hatten Tier- und Pflanzentransfers bereits seit Jahrtausenden und verstärkt ab dem „Kolumbianischen Austausch“ verschiedene Kontinente miteinander verflochten; doch erst ab den 1870er Jahren erfasste die Globalisierung Landwirtschaft und Ernährung im großen Umfang (siehe Kapitel 3; Langthaler 2010, 2016c; Kaller-Dietrich 2011).
2.4 UK-zentriertes Nahrungsregime (1870er–1920er Jahre)
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstand um das Vereinigte Königreich (United Kingdom, UK) ein globales Nahrungsregime, das die wachsenden Industriezentren der Britischen Inseln und Kontinentaleuropas mit Grundnahrungsmitteln aus agrarischen Randlagen außerhalb des Kontinents versorgte. Getreide und, nach Entwicklung der Kühltechnik, Gefrierfleisch gelangten aus den klimatisch gemäßigten Siedlerkolonien Nord- und Südamerikas, Ozeaniens und Zentralasiens mittels Dampfeisenbahn und Dampfschiff auf dem wachsenden Schienen- und Wasserwegenetz (z. B. Suezkanal 1869) in die europäischen Metropolstaaten. Auf dem globalen Getreidemarkt traten vor dem Ersten Weltkrieg Russland, Argentinien und die USA als Hauptexporteure sowie Großbritannien, Deutschland, Belgien und die Niederlande als Hauptimporteure auf (siehe Box 2.2). Das institutionelle Regelwerk dieser Handelsströme umfasste die Freihandelspolitik (z. B. Aufhebung der britischen Getreidezölle 1846) und den Goldstandard mit dem Britischen Pfund als internationaler Leitwährung.
Box 2.2: Globaler Getreidehandel vor dem Ersten Weltkrieg
Vor dem Ersten Weltkrieg war Russland der bei Weitem größte Getreideexporteur. Danach folgten von europäischen Siedlern kolonisierte Gebiete in Übersee: Argentinien, USA, Kanada sowie Australien und Neuseeland. Zudem waren auch Rumänien und Indien wichtige Exportländer. Die wichtigsten Importeure von Getreide waren europäische (Kolonial-)Staaten: Allen voran lagen Großbritannien und Irland, gefolgt vom Deutschen Reich, Belgien und den Niederlanden, Frankreich und Italien. Die Importländer unterschieden sich nach dem Anteil der Getreideeinfuhren am Inlandsverbrauch. Auf der einen Seite standen Kolonialmächte, die ihren Getreideverbrauch zu fast zwei Dritteln über Importe deckten: Großbritannien und Irland sowie Belgien und die Niederlande. Auf der anderen Seite lagen die fast autarken Länder, darunter die kontinentalen Vielvölkerreiche Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Die übrigen Staaten verzeichneten Importanteile zwischen rund einem Zehntel (Frankreich) und einem Viertel (Dänemark). Dass Industrialisierungsgrad und Importabhängigkeit bei Nahrungsmitteln zusammenhängen, legen die Beispiele des hoch industrialisierten Großbritanniens und des (vor allem im Osten des Reiches) noch stark agrarisch geprägten Österreich-Ungarns nahe. Gegen diesen Zusammenhang spricht das hoch industrialisierte, aber vergleichsweise importunabhängige Deutsche Reich, das eine protektionistische Handelspolitik mittel Getreideeinfuhrzöllen verfolgte (Langthaler 2010).
Grundzüge des Weltgetreidehandels 1909/13 (eigene Darstellung nach Langthaler 2010, 145)
Die britischen Getreide- und Fleischeinfuhren dienten vor allem den Interessen von Nationalstaat und Industriekapital: Billige Grundnahrungsmittel für die wachsende Industriearbeiterschaft in der britischen „Werkstatt der Welt“ vermochten deren Protestpotenzial einzudämmen und Lohnkosten zu verringern (Koning 1994, 11 ff.; Tanner 1999). In den stetig sinkenden Brotpreisen Londons wirkten mehrere Glieder der transkontinentalen Wertschöpfungskette zusammen: billige Land- und Arbeitskraftressourcen – nährstoffreiche Graslandflächen und verzichtgewohnte Siedlerfamilien – an den überseeischen und zentralasiatischen Pionierfronten; billiger Ferntransport mittels Dampftechnologie zu Lande und zu Wasser; billige Massengüter der aufblühenden Lebensmittelindustrie; schließlich billige Arbeitskräfte, einschließlich Frauen und Kinder, in den nordwesteuropäischen Industrierevieren. Kurz, die interessengeleitete „Vermarktlichung“ entlang der Nahrungskette gliederte Gesellschaft und Umwelt in verschiedenen Weltregionen in das UK-zentrierte Nahrungsregime ein (McMichael 2013, 26 ff.).
Das UK-zentrierte Nahrungsregime beschleunigte nicht nur den Niedergang der zuvor hoch entwickelten Landwirtschaft auf den Britischen Inseln, sondern auch das Vorrücken der intensiven Getreidebau-Rindermast-Mischwirtschaft nach europäischem Maßstab in Übersee, das der indigenen Bevölkerung und deren extensiver Landnutzung (z. B. Wanderfeldbau) die Lebensgrundlage entzog (Barbier 2011, 368 ff.). Zur Rechtfertigung dieser Widersprüche diente die westliche Ideologie der „Zivilisation“, die europäische Herrschafts-, Besitz- und Deutungsansprüche über die politischen, ökonomischen und kulturellen Rechte der „Primitiven“ erhob – und damit die Ungleichheit zwischen den Weltregionen zementierte (Davis 2002).
In die Krise geriet das UK-zentrierte Nahrungsregime jedoch weniger durch innere als durch äußere Widersprüche: Unter dem Preisdruck der „Getreideinvasion“ (O’Rourke 1997) aus Übersee suchten kontinentaleuropäische Staaten, beginnend mit Deutschland und Frankreich, ihre nationalen Agrarsektoren mittels Einfuhrzöllen zu schützen. Dies galt für bäuerlich geprägte Formen der Landwirtschaft im Westen wie für die Gutsbetriebe im Osten Europas. Hinter der Zollschutzpolitik standen meist Koalitionen aus Großgrundbesitz, Bauernverbänden und Industriekapital, die wirtschaftliche und politische Interessen – etwa die Sorge vor dem revolutionären Potenzial der Industriearbeiterschaft – verbanden. Hinzu kam die Sorge vieler in nationalistische Konflikte verstrickter Staaten um die → Ernährungssicherheit im Kriegsfall. Diese protektionistische Bewegung legte im Gefolge des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre das Freihandelsregime unter britischer Führung letztlich lahm (siehe Abb. 2.1; Aldenhoff-Hübinger 2002).
Abb. 2.1: Übersicht zum UK-zentrierten Nahrungsregime (eigene Darstellung)
2.5 US-zentriertes Nahrungsregime (1940er–1970er Jahre)
Das US-zentrierte Nahrungsregime, das sich während der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs formierte, verlagerte die globalen Handelsbeziehungen. Nicht mehr Peripherien versorgten mit ihren Überschüssen das Zentrum, wie im UK-zentrierten Nahrungsregime außereuropäische Siedlerkolonien die britische Metropole. Stattdessen exportierten die USA als neues Zentrum ihre Überschüsse in westlich