Agro-Food Studies. Ernst Langthaler
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Anmerkung: Das Diagramm zeigt die physische Handelsbilanz (Importe minus Exporte). Positive Werte bedeuten Nettoimport, negative Werte Nettoexport.
Das anhaltende Dumping von Agrarüberschüssen drückte die Weltmarktpreise unter die Produktionskosten. Dies wirkte zwar zum Vorteil transnationaler Handels- und Verarbeitungsunternehmen, benachteiligte jedoch die (klein-)bäuerlichen NahrungsproduzentInnen weltweit, vor allem im Globalen Süden. Laut einer Schätzung der Welternährungsorganisation FAO verloren hier in 16 Ländern 20 bis 30 Mio. Menschen aufgrund der Liberalisierung des Agrarhandels ihre bäuerliche Existenz (Madeley 2000, 75; Patel 2008; Brookfield und Parsons 2007). Viele Entwicklungsländer (→ Globaler Süden) hatten bereits im US-zentrierten Nahrungsregime begonnen, die Exportlandwirtschaft für tropische Güter zu forcieren und Grundnahrungsmittel aus Industrieländern zu importieren. Diese Tendenz verschärfte sich im WTO-zentrierten Regime durch „Strukturanpassungsprogramme“ von Weltbank und Internationalem Währungsfonds zum Schuldenabbau sowie durch → land grabbing durch transnationale Unternehmen im Bündnis mit nationalen Regierungen (Englert und Gärber 2014). Einige Staaten Lateinamerikas und Asiens stiegen als New Agricultural Countries durch Agrarexporte, etwa von Sojabohnen (siehe Box 2.7), zu den global players auf; dies ging jedoch oft zulasten der Ernährungssicherheit der ärmeren, von Nahrungsimporten abhängigen Bevölkerungsklassen. Trotz einzelner Exporterfolge waren Mitte der 2000er Jahre 70 % der Länder des Globalen Südens Nettoimporteure von Nahrungsmitteln. Auf diese Weise wurden sie verletzlicher gegenüber Preisschwankungen auf dem Weltmarkt – wie etwa 2007/08, als die Grundnahrungsmittelpreise binnen eines Jahres auf das Zwei- bis Dreifache hochschnellten (siehe Box 3.2; McMichael 2013, 47 ff.).
Box 2.7: Die Weltkarriere der Sojabohne im 20. Jahrhundert (eigene Darstellung nach Langthaler 2015, 60)
Die Sojabohne, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts ausschließlich in Ostasien angebaut und verbraucht wurde, erfuhr im 20. Jahrhundert eine erstaunliche Weltkarriere. Aufgrund ihres hohen Fett- und Eiweißgehalts wurde die Frucht häufig als „Wunderbohne“ bezeichnet. Im UK-zentrierten Nahrungsregime verliefen europäische Anbauversuche, etwa durch den Österreicher Friedrich Haberlandt in den 1870er Jahren, zunächst im Sand. Doch noch vor dem Ersten Weltkrieg begannen Handelsunternehmen, Sojabohnen(-produkte) aus der – zwischen Russland und Japan umkämpften – nordostchinesischen Mandschurei nach Westeuropa zu verschiffen. Dort diente das Öl als industrieller Rohstoff, etwa zur Seifenherstellung. Im US-zentrierten Nahrungsregime stiegen die USA im und nach dem Zweiten Weltkrieg zum führenden Sojaproduzenten und -exporteur auf. Dabei gewann zunehmend der bei der Ölgewinnung anfallende Ölkuchen als eiweißreiches Futtermittel für den US-amerikanischen, westeuropäischen und japanischen Viehkomplex an Gewicht. Im WTO-zentrierten Nahrungsregime machten Brasilien und andere Staaten Südamerikas den USA die Führungsrolle auf dem Weltmarkt für Sojaprodukte streitig. Als Hauptabnehmer trat neben Europa und Japan nun China, dessen urbane Mittelschichten zunehmend den Fleischkonsum – und damit den Futtermittelverbrauch – in die Höhe trieben. Im Lauf des 20. Jahrhunderts wurde die Sojabohne von einem fernöstlichen Gemüse für den menschlichen Verzehr zu einer ‚verwestlichten‘ Ölfrucht als Quelle für eine Fülle weiterer Produkte: als Pflanzenöl für die menschliche Ernährung, als Rohstoff für die Herstellung verschiedener Industrieprodukte (Farben, Kleber, Kosmetika usw.) und als Futtermittel für die wachsenden Nutzviehherden in Industrie- und Schwellenländern (Langthaler 2015).
Handelsströme von Sojaprodukten 2011
Die De- und Reregulierung im WTO-Regime spaltete den globalen Nahrungsmittelmarkt in ein Quantitäts- und ein Qualitätssegment: Das niedrigpreisige Quantitätssegment herrscht in den südlichen Schwellenländern und den östlichen Transformationsländern, aber auch unter einkommensschwachen Käuferschichten in westlichen Industrieländern vor. Es umfasst vor allem gentechnisch veränderte, agroindustriell verarbeitete und transkontinental gehandelte Waren von Supermärkten und fast-food-Ketten (food from nowhere; Campbell 2009). Das hochpreisige Qualitätssegment, das in den Industrieländern des Nordens eine wichtige Nische im Einzelhandel bildet, umfasst verschiedene Angebote: einerseits tropische Fisch-, Obst- und Gemüseprodukte, die saisonunabhängig über transnationale Vertriebswege in den Einzelhandel gelangen; andererseits saisonale, regionale und Bioprodukte für kaufkräftige und reflektierte KonsumentInnen (food from somewhere; Campbell 2009). Die marktmächtigen Supermärkte machen sich diese Zweiteilung zunutze, indem ihr Angebot beide Segmente zugleich bedient und derart die Kaufkraft der KonsumentInnen – vom exzessiven Fleischkonsum zum differenzierten Speisezettel – umfassender ausschöpft (Weis 2013).
Doch die lohnabhängigen KonsumentInnen von Handelswaren sind weniger zahlreich als die (klein)bäuerlichen, hungergefährdeten NahrungsproduzentInnen, denen das WTO-zentrierte Nahrungsregime die Lebensgrundlage zu rauben droht (siehe Kapitel 7; McMichael 2013, 47 ff.). Derartige Widersprüche, angeheizt durch die Welternährungskrisen von 2007/08 und 2010/11 (Rosin et al. 2012), treten zunehmend in das öffentliche Bewusstsein – etwa in der globalisierungskritischen Bewegung La Via Campesina (van der Ploeg 2008), die der neoliberalen Auffassung von Ernährungssicherheit die → Ernährungssouveränität als Menschenrecht entgegenhält (siehe Abb. 2.3; McMichael 2013, 57).
Abb. 2.3: Übersicht zum WTO-zentrierten Nahrungsregime (eigene Darstellung)
Der Weg von Landwirtschaft und Ernährung im Globalisierungszeitalter folgte keiner zielgerichteten „Modernisierung“ von einem Anfangs- zu einem Endzustand. Vielmehr führte er, mehrmals die Richtung wechselnd, durch unterschiedliche Nahrungsregime: das erste, UK-zentrierte, das zweite, US-zentrierte und das dritte, WTO-zentrierte. Entgegen dem neoliberalen TINA-Prinzip (there is no alternative) ist das gegenwärtig herrschende Nahrungsregime nicht alternativlos. Die neoliberale Strategie, die etwa die WTO vertritt, fordert entsprechend einer produktivistischen Logik den Ausbau des agroindustriellen Modells mittels wissenschaftlich-technischen Fortschritts (z. B. → Gentechnik). Dazu gibt es mehrere Alternativen: Die reformistische Strategie, die etwa viele Aktivitäten der FAO anleitet, sucht die Auswüchse des neoliberalen Regimes mittels Nahrungshilfsprogrammen und der Förderung nachhaltiger Landbewirtschaftung einzudämmen, ohne jedoch die Machtverhältnisse grundsätzlich umzuwälzen. Die progressive Strategie, der → alternative Lebensmittelnetzwerke (z. B. Fair Trade) folgen, sucht innerhalb des herrschenden Regimes Nischen eines gerechten und nachhaltigen Umgangs mit Nahrung auszubauen. Die radikale Strategie, die etwa La Via Campesina vertritt, zielt auf die Aushebelung agroindustrieller Geschäfts- und industriestaatlicher Machtinteressen