Medienwandel. Joseph Garncarz
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Schreiben von Fritz Keller an Ludwig Stössel vom 4. August 1938
(Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin, Sammlung Paul Kohner)
Auszug aus dem Protokoll der Kölner Sitzung der ständigen Programmkonferenz am 13. September 1957
(Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main, ARD-Reg. 6-58)
Für die Frage, in welchem Maß in Deutschland im 20. Jahrhundert Primärquellen zum Film überliefert sind, spielen kulturelle Mentalitäten ebenso eine Rolle wie politische Entwicklungen. Im Unterschied zu den USA, wo große Filmfirmen ihre Aktenbestände Universitäten übergeben haben, gilt in Deutschland die Firmengeschichte als ein zu bewahrendes Geheimnis. Deutsche Filmfirmen haben ihre Akten nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist, die heute zehn Jahre beträgt, daher in aller Regel nicht an öffentliche Archive gegeben. Stattdessen haben die Unternehmen die Akten in der Regel vernichtet, weil sie für die aktuellen Geschäfte keinen Wert mehr hatten und ihre Archivierung daher nur unnötige Kosten verursacht hätte. Die politische Katastrophe des Dritten Reichs stellt sich vor dem Hintergrund dieser Mentalität überlieferungsgeschichtlich als ein »Glücksfall« dar, weil durch die Verstaatlichung von Medienfirmen viele Firmenakten erhalten geblieben sind, die ansonsten – wie viele Akten aus der Nachkriegszeit – mit großer Wahrscheinlichkeit vernichtet worden wären. Die im Besitz des nationalsozialistischen Staates befindlichen Firmenakten gingen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Besitz der Bundesrepublik Deutschland bzw. der Deutschen[46] Demokratischen Republik über und sind heute im Wesentlichen über das Bundesarchiv zugänglich.
Alle Fallstudien dieses Buchs basieren auf einem umfangreichen Quellenstudium. Kapitel 9, 12 und 17 sind Beispiele dafür, wie ein tradiertes Wissen durch ein systematisches Quellenstudium revidiert werden kann. Kapitel 9 widerlegt die Annahme, Charles Chaplins Filme seien universell populär gewesen. Kapitel 12 widerlegt die Auffassung, Leni Riefenstahl transportiere mit ihrem Film OLYMPIA primär die nationalsozialistische Ideologie. In Kapitel 17 wird das international favorisierte Modell über die Rolle Hollywoods auf den Auslandsmärkten widerlegt, demzufolge der US-Film seit Mitte der 1910er-Jahre weltweit dominant gewesen sei. Alle Fallstudien bringen die Vorurteile nicht nur zu Fall, sondern setzen überzeugendere Aussagen an ihre Stelle.
Erforscht man ein Medium im Wandel, ist es erforderlich, es nicht zu isolieren, sondern in seiner Interaktion mit anderen Medien zu sehen. Mediengeschichte wurde über Jahrzehnte als Einzelmediengeschichte geschrieben, also ohne andere Medien systematisch mit in die Analyse eines Mediums einzubeziehen. Heute findet man oft das Gegenteil: Eine Mediengeschichtsschreibung, die von Medien handelt, aber Einzelmedien kaum zur Kenntnis nimmt. Ein Ausweg aus dem Dilemma ist, Mediengeschichte in Bezug auf einzelne Medien wie Film und Fernsehen zu schreiben (denn nur so können Quellen wirklich ausgewertet werden), dabei aber andere Medien mit in die Analyse einzubeziehen, weil diese Funktion und Profil des untersuchenden Mediums mit bestimmen.
Kapitel 15 und 16 zeigen, wie Film und Fernsehen von den 1950er- zu den 1990er-Jahren miteinander interagieren. Zeigt Kapitel 15, wie sich die Mediennutzungsform TAGESSCHAU des Fernsehens in der Auseinandersetzung mit der Kinowochenschau und der Nachrichtensendung des Hörfunks gewandelt hat, so stellt Kapitel 16 dar, wie sich die Institution Kino (neben anderen Faktoren) unter den Bedingungen des immer erfolgreicher werdenden Fernsehens verändert hat.
Darüber hinaus ist es sinnvoll, die kulturellen Referenzsysteme zu reflektieren, indem man eine Medienkultur mit einer anderen vergleicht. Referenzsysteme können unterschiedlicher Art sein: Kultur kann die Kultur einer sozialen Gruppe, einer Generation, einer Stadt, einer Region, eines Landes/einer Nation oder auch die der Welt insgesamt sein.
Oft wählt die Forschung ein Land als Referenzsystem der Kultur, weil dort überwiegend Menschen der gleichen Sprach- und Kulturgemeinschaft leben, die[47] ähnliche kulturelle Praktiken teilen. Am Beispiel von Ländern, in denen die Zusammensetzung der Bevölkerung in einem größeren Maß aus Menschen verschiedener Sprach- und Kulturgemeinschaften bestand, lässt sich ablesen, dass es durchaus aber nicht immer Länder sind, die sich durch eine relative kulturelle Homogenität auszeichnen. Das Beispiel der Tschechoslowakei in den 1930er-Jahren zeigt sehr deutlich, dass die Sprach- und Kulturgemeinschaften der Tschechen, Slowaken, Deutschen usf. starke gemeinsame kulturelle Vorlieben hatten, die sich deutlich voneinander unterschieden. Die Filmpräferenzen der deutschsprachigen Bevölkerung in der Tschechoslowakei etwa waren den Vorlieben der Deutschen in Deutschland ähnlicher als denen der Tschechen.19
Über Jahrzehnte schien das eigene Land als ein selbstverständlicher Bezugspunkt der Medienforschung; Forscher blickten kaum über die jeweiligen nationalen Grenzen hinaus. Heute ist das Pendel beinahe ins andere Extrem ausgeschlagen. Mediengeschichte wird heute oft geschrieben, ohne sie zu lokalisieren; es wird quasi von vornherein unterstellt, dass Medien globale Phänomene seien (was die Fallstudien im zweiten Teil dieses Buchs widerlegen). Man kann diese Fallstricke vermeiden, indem man sich auf ein Land konzentriert (eine Beschränkung des Quellenkontingents ist ein Gebot der Machbarkeit) und dabei die Ergebnisse der Forschung mit der Situation anderer Länder vergleicht (auf der Basis der Forschungsliteratur bzw. einer selektiven Nutzung von Quellen). Auf diese komparatistische Weise lässt sich beurteilen, ob die Medienentwicklung für das eigene Land spezifisch bzw. ob sie in mehreren Ländern ähnlich verlaufen ist. Stellt man kulturelle Varianzen zwischen verschiedenen Ländern fest, so sind diese erklärungsbedürftig.
In jüngster Zeit haben sich Medienhistoriker verstärkt mit der Frage des Kulturtransfers beschäftigt. Die Medienlandschaften zweier Länder – ob es sich dabei um Nachbarländer oder um Länder auf verschiedenen Kontinenten handelt – müssen sich nicht unabhängig voneinander entwickelt haben. In Europa etwa war im 20. Jahrhundert ein intensiver Austausch von Medienprodukten üblich. Sicherlich wurden viele Filme nur für die einheimischen Märkte produziert. Andererseits gab es eine gezielte Produktion für den europäischen Markt (siehe Kapitel 11), also einen Austausch von Filmen über Ländergrenzen hinweg. Deutsche Filme wurden in französischen Kinos gezeigt und französische Filme in deutschen Kinos. Historiker fragen oft danach, wie sich das jeweilige Zielland durch den Kulturaustausch verändert hat. Bei Unterhaltungsprodukten kann man jedoch auch fragen, welchen Unterhaltungswert die Filme eines Landes für das Publikum eines anderen Landes hatten. Sind die ausländischen Filme kulturell zu fremd, sind sie beim Publikum oft chancenlos, da ihnen der bewährte Unterhaltungswert fehlt. Das Publikum wirkt in diesem Fall wie ein Filter, der verhindert, dass der Kulturtransfer die Kultur des Ziellandes nachhaltig verändert.
[48]Kapitel 10, das sich mit unterschiedlichen Übersetzungsverfahren fremdsprachiger Filme beschäftigt, ist ein Beispiel für ein komparatistisches Vorgehen. Erst im Ländervergleich wird deutlich, dass sich in unterschiedlichen Ländern spezifische Übersetzungsverfahren etabliert haben. So lässt sich zeigen, dass die Synchronisation eines fremdsprachigen Films in der eigenen Sprache nur in Deutschland, Italien und Spanien zur dominanten Übersetzungspraxis wurde.
Kapitel 9, 12 und 14 sind Beispiele für Kulturtransfer. In Kapitel 9 wird untersucht, wie erfolgreich Charles Chaplins Filme beim deutschen Publikum der 1920er- und 1930er-Jahre waren. Kapitel 12 analysiert, wie Leni Riefenstahl ihren Film OLYMPIA in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre so gestaltet hat, dass er eine Chance hatte, international erfolgreich zu werden. Kapitel 14 untersucht, warum für das deutsche Publikum der 1950er-Jahre die Nazis aus dem Film CASABLANCA herausgeschnitten wurden.
Da das Angebot an Medientechnologien und -nutzungsformen in aller Regel sehr vielfältig ist und die privaten Mediennutzer daraus eine Auswahl treffen, ist es sinnvoll, die Dynamik von Angebot und Nachfrage zu